Ihren Höhepunkt findet Benedikt Loderers Bieler Tour auf einer Viehrampe nahe dem ehemaligen Schlachthof. Wo einst Rinder den Güterwagen der Biel-Täuffelen-Ins-Bahn entstiegen, geht er die Betonschräge hoch, blickt Richtung Schlachthofareal und sagt: «Bei einem solchen politischen Erfolg durfte ich zuvor noch nie mitmachen.» Die Rede ist vom A5-Westast, einer der letzten Lücken im Schweizer Nationalstrassennetz, der hier eine riesige Schneise durch Biel gefressen hätte. Wenn Loderer, Mitglied des Komitees «Westast so nicht!», nun an just dieser Stelle erzählt, wie das Projekt sein vorläufiges Ende fand, huscht ein kurzes verschmitztes Lächeln über sein Gesicht.
«Biel ist ein Fremdkörper im Kanton Bern»
Doch von Anfang an. Es ist feuchtkalt an diesem Morgen, und die Sonne wird nur einen halbherzigen Versuch unternehmen, sich durch den dichten Hochnebel zu boxen. Benedikt Loderer, 75-jährig, Architekt, Journalist und Mitbegründer der Architektur-Zeitschrift «Hochparterre», hat die Hände tief in den Manteltaschen vergraben. Seit zwölf Jahren lebt er in Biel. Doch als Stadtwanderer ist der Architekturkritiker schweizweit bekannt. Kürzlich erschien das Buch «Stadtwanderers Störsender», eine Sammlung von Kolumnen, die er für das «Bieler Tagblatt» geschrieben hat. Darin nimmt er Bauprojekte und die Stadtentwicklung in Biel unter die Lupe. Gültig sind seine Beobachtungen aber für die ganze Schweiz. Grund genug, sich ihm auf einem seiner Rundgänge anzuschliessen.
Von seiner Wohnung in der Altstadt zieht Loderer zielstrebig Richtung Innenstadt und rollt dabei beiläufig mehrere hundert Jahre Ortsgeschichte auf. Biel unter den Basler Fürstbischöfen, der Zuspruch an Bern, die Reibereien zwischen Stadt und Kanton. «Biel ist ein Fremdkörper im Kanton Bern», erklärt Loderer und biegt am Ende einer Ladenpassage um eine Hausecke. «Salut Beno» – den Gruss des Mannes mit Kinderwagen scheint er überhört zu haben. Zu vertieft ist er: Rotes Biel versus bürgerliche Kantonsregierung, Uhrenindustrie und Uhrenkrise.
Auf der Place de l’Esplanade bleibt Loderer ein erstes Mal stehen. Einsam reckt sich hier ein schlankes Hochhaus in die Höhe, ein flaches Gebäude hat sich daneben der Länge nach ausgestreckt. Das Kongresshaus von Biel ist ein beeindruckendes Ensemble. Eine schräge Stirn schliesst den Sichtbetonbau aus den 1960ern zum Platz hin ab. «Es ist eine gute Kombination, das muss ich sagen», sagt Loderer. Jetzt ist er in seinem Element. Vom kleinen Park auf der Rückseite des Kongresshauses zeigt er, was den Entwurf von Max Schlup zur Ikone macht: «Das ist ein sogenanntes Hängedach; damals war es eines der grössten dieser Art in Europa.» Loderer deutet auf Betonpfeiler, auf denen das Dach ruht. Wie eine Hängematte legt sich die Konstruktion über den Konzertsaal und das Hallenbad im Innern. Heute steht der Komplex unter Denkmalschutz. Keine Selbstverständlichkeit, erzählt Loderer. Jedes Mal, wenn wieder eine Renovation anstand, habe man vonseiten der Bürgerlichen den Abriss gefordert.
Loderer mag es markig und bissig
Weiter geht der Spaziergang und das Gespräch – vom Sichtbeton zu den Hochhaussiedlungen der 1960er, von der Skepsis der Schweizer gegenüber verdichtetem Bauen zur «Hüsli-Schweiz». Unverkennbar hört man in den Ausführungen jenen Loderer, der in seinen Texten seit über drei Jahrzehnten unbequeme Fragen aufwirft. Wie viel Mobilität brauchen wir? Weshalb sind wir so auf Einfamilienhäuser versessen? Was läuft falsch in der Siedlungspolitik? Spricht man ihn auf seine Kritiker-Rolle an, zuckt er mit den Schultern: «Mit diesem Ruf lässt es sich leben. Zudem bin ich nicht altersmilde, sondern eher von Alterswut erfüllt.» Dass er nicht kokettiert, beweist er ein paar Minuten später. Beim Thema Zersiedelungs-Stopp bleibt er abrupt stehen. Zum ersten Mal seit langem verlassen seine Hände die Manteltaschen, um seinen Worten zu assistieren: «Wenn Sie diesbezüglich etwas ändern wollen, müssen Sie schauen, dass die Schweiz verarmt.» Will heissen: Solange wir uns die Häuschen und Autos leisten können, werden wir weiter Land verbrauchen. Ja, Benedikt Loderer mag es markig und bissig.
Nächster Halt, General-Guisan-Platz. Hier entstand ab den 1920ern nach dem zweiten Umzug des Bieler Bahnhofs ein ganzes Quartier im Stil des Neuen Bauens. Loderer zeigt zuerst auf das markante Volkshaus mit seiner roten Klinkerfassade, dann auf das zurückhaltende Art-Deco-Hotel Elite gleich gegenüber: «Das ist der sozialdemokratische Palast – und das hier die Antwort des Freisinns – wie Don Camillo und Peppone.» Der Vergleich mit Giovannino Guareschis rivalisierenden Romanfiguren aus dem Nachkriegs-Italien zeigt: Benedikt Loderer beobachtet und notiert gesellschaftliche Entwicklungen, politische Streitereien und ideologische Kampflinien mit viel Schalk. Aber vor allem: sehr aufmerksam.
Und so endet der Spaziergang auf einer ehemaligen Viehrampe auf der anderen Seite des Bieler Bahnhofs, wo Loderer anhand einer Karte und einer Computerzeichnung die Grösse des A5-Westasts verdeutlicht. 5000 Bielerinnen und Bieler gingen am Ende gegen das Projekt auf die Strasse; im November 2020 wurde es schliesslich an einem runden Tisch beerdigt. Irgendeine Alternative werde es geben müssen, so Loderer. «Ob wir das in 30 Jahren noch brauchen, ist eine andere Frage», sagt er. Und blickt der roten Schmalspurbahn nach, die in diesem Moment Richtung Bahnhof in einem Tunnel verschwindet. «Äne geits ned use», sagt er. Kopfbahnhof. Und man spürt: Auch zu diesem Thema könnte Benedikt Loderer noch einiges erzählen.
Buch
Benedikt Loderer
Stadtwanderers Störsender – 77 Kolumnen zum Verdauen
224 Seiten
(Edition Clandestin 2020)