Was ist ein Aphorismus? Auch diese Auskunft gibt Autor Heimito Nollé mit einem Aphorismus: «Aphorismus – das Tiny House der Literatur.» Literarische Versuche in maximaler Kürze also. Die Gefahr der Form liegt in ihrer Unterschätzung, nämlich im Irrtum, mit dem Schmunzeln über ein vermeintliches Bonmot sei es getan. Doch gute Aphorismen leisten mehr.

In ihrer Reduktion geben sie Raum und Anstoss zum Selberdenken. Von dieser guten Sorte ist mancher der Aphorismen in Nollés Band «Scherbengerichte». Zuweilen ist es eine Ironie im Geist Voltaires, mit der eine Untugend unserer Zeit aufgespiesst wird. «Angesichts unserer Meinungsstärke müssten sich doch auch die harten Fakten erweichen lassen!» In einer Medienwelt, in der immer öfter die Ideologie über die Wissenschaft triumphiert, rennt man damit offene Türen ein.

Auch die Paradoxie ist dem Aphoristiker ein Mittel zur Kritik. «Am Ende jeder Friedensperiode zeigt sich von neuem: Die Geschichte hat aus uns gelernt.» Das ist eine finstere Selbstkritik im Namen der Menschheit und gerade wieder erschreckend aktuell. Und sie wirft Fragen auf: Kann man die Behauptung vom Kopf auf die Füsse stellen – oder lernen wir tatsächlich nichts aus der Geschichte? Neben gesellschaftskritischen Aphorismen haben auch solche zur Lebensweisheit ihren Platz.

«Vielleicht ist es hinter der Ecke, um die wir gebracht werden, schöner?» Eine grobe Metapher wird in eine feinere emporgehoben und zugleich die Hoffnung auf unsere eigene Etage heruntergebeten. Verständlich, dass das Mauerblümchendasein ihrer Textgattung bei den Aphoristikern einen gewissen Trotz weckt: «Um als Aphoristiker bekannt zu werden, genügt es oft schon, einen Roman zu schreiben.» Doch zum Glück ist Nollé auch mit seinem vierten Buch dem Tiny House der Literatur treu geblieben und nicht in die Mehrzweckhalle umgezogen.

Buch
Heimito Nollé
Scherbengerichte – Aphorismen
60 Seiten
(edition offenes feld 2023)