Die Tochter übt den Tod ihres Vaters. Sie fragt sich, wie es sich anfühlen wird, wenn er «meine Welt verlässt». Dabei vergisst sie, dass sie sich auf dieses Geschehen nicht vorbereiten kann, «schon gar nicht mental, und doch versuche ich, mich im Abschiednehmen zu üben, als gäbe es dadurch die Aussicht, dass es gelinge». So schildert die Journalistin Anuschka Roshani in ihrem Debüt die ambivalente Empfindungswelt, in welche die fortschreitende Parkinson-Erkrankung ihres Vaters sie hineinstösst. Plötzlich stellt sie sich die Frage, «wie man die wurde, die man ist». Ihre Themen seien «Tod und Verderben» gewesen, sagt sie in einem Zürcher Café. Doch ihr Werk liest sich wie ein Liebesbrief an die eigene Familie. Mal traurig, oft zum Schmunzeln und immer schön wie ein Tag im März, der schon in den Farben des Frühlings spielt.
«Edler Wilder» trifft in Berlin auf illustres Model
Natürlich ist eine akribische Krankheitsschilderung allein noch keine Literatur. Den ungnädigen Persönlichkeitsverlust des Vaters spinnt die Autorin in einen grösseren Erzählzusammenhang ein. Der Vater Biouk kommt 1955 mit dem Zug von Teheran nach Freiburg im Breisgau und studiert Medizin. 1961 lernt er in Berlin Monika kennen, ein deutsches Model aus wohlhabendem Haus. Als die junge Frau den Freund ihren Eltern vorstellt, sind sie entsetzt. «Ein Wilder! Unter Umständen zwar ein edler Wilder, immerhin mit einem Doktortitel ausgestattet, aber doch einer aus einer Bananenrepublik vom andern Ende der Welt.» Die Nachbarn fragen: «Warum muss eure Moni gerade einen Ausländer heiraten? Gibts denn keine Deutschen mehr?»
Einblicke in die deutsche Nachkriegsära
Die ungewöhnliche Geschichte ist eine neue Form der «erzählenden Literatur». Die Autorin befasst sich mit dem eigenen Altern, den lebenden Eltern und ist zugleich ein Sittengemälde der bundesdeutschen Nachkriegsära Konrad Adenauers. Es sind geschönte – da durch die subjektive Tochterbrille erzählt –, aber auch ungeschönte Beschreibungen einer Familie, deren Mutter und Vater extrem autonome Charaktere sind: Beide progressiv, während die Mehrheitsgesellschaft noch arg konservativ ist. Biouk und Monika heiraten 1963 am Tag, an dem US-Präsident John F. Kennedy in der Stadt die historischen Worte «Ich bin ein Berliner» spricht. Sie bekommen zwei Töchter. Die Ehe scheitert, der Vater verliebt sich in eine andere und verlässt die Familie 1970. «Nachdem sie ihr Liebesbündnis aufgelöst hatten, rumpelte ihr Verhältnis zwar immer wieder – und doch hat bis hierhin keiner von beiden dem anderen die Komplizenschaft je versagt.» Etwa als der Ex-Mann seine Ex-Frau an die holländische Grenze begleitet, um ihr bei einem Schwangerschaftsabbruch beizustehen. «Sie vertraute blind auf seine medizinische Kompetenz und auf seine Kameradschaft.»
Sanfte Beschreibungen, harte Worte
Die ehemalige «Spiegel»-Redaktorin Roshani lebt seit 2002 in Zürich und arbeitet für «Das Magazin». Das Niederschreiben ihrer Erfahrungen habe ihr «bei der Bewältigung der Situation geholfen». Zwar neigt sie im Erzählen gelegentlich zu Pathos, etwa wenn sie das Innenleben ihres Vaters als «immer züngelnde, wilde Flamme unter einem Glassturz» erahnt. Zudem erzählt sie auch etwas unstet. Das Abweichen von einer klassischen Dramaturgie sei ihrem fehlenden Gestaltungswillen geschuldet, sagt sie.
Dennoch: Entstanden ist ein aussergewöhnliches Buch einer studierten Verhaltensbiologin, die sich mit einem Sezierblick dem Leben ihrer Familie nähert. Ihre durchdringenden Schilderungen erinnern an die Bücher «Jedermann» und «Mein Leben als Sohn» des kürzlich verstorbenen US-amerikanischen Schriftstellers Philip Roth. Seine «Unabweislichkeit des Todes» überzieht auch die Gedanken der Erzählerin.
Die Journalistin schwankt zwischen sanften und konfrontativ harten Worten. Sie ruft ihren Vater an: Er röchelt ins Telefon. Parkinson macht seine Stimme verwaschen. «Es tut mir so leid, dass er mir leid tut.»
Roshani hatte Sorge, er würde ihr Debüt als Buchautorin nicht mehr miterleben. Momentan lebt der 87-Jährige in einer Altersresidenz, «schwankend zwischen Todessehnsucht und Lebenslust». Aber sollte ihr Buch eines Tages von der Realität eingeholt werden, wird es ein zeitloses Dokument bleiben, weil es literarisch kühn und dem Leben so nahe ist.
Buch
Anuschka Roshani
Komplizen. Erinnerungen an meine noch lebenden Eltern
256 Seiten
(Kein & Aber 2018)