In dieser Nacht legte sich die Lüge zwischen sie wie früher das Kind, als es vier oder fünf war und plötzlich nicht weiterträumen mochte, weil es zu fürchten schien, dass es über der Eintönigkeit eines Traums die besten Augenblicke seines Lebens verpasste. Und wie damals brachte sie es nicht übers Herz, die Ruhestörung zurückzuweisen, sondern liess sie, wenn auch widerwillig, zu ihnen unters Plumeau schlüpfen.
Doch spannte sich ihre Bauchdecke hart bei dem Gedanken an die Lüge, die nun zu allem Übel anhob, ihren Schlaf zu zermörsern, bis dieser schliesslich zu kleinsten Fetzen zerrissen ins Dunkel stob.
Wie in jenen früheren Nächten bemühte sie sich, jedem Hieb zuvorzukommen: etwa jenem, der wie vom Kind gänzlich unschuldig ausgeteilt worden war, mit einem spitzen Ellenbogen oder einem schweren Fuss, aber trotzdem schmerzte. Und so, wie sie dem Kind damals seine unwillkürlichen Zuckungen nicht hatte vorhalten können, versuchte sie jetzt, sich gegenüber der Lüge zu behaupten – sie hielt für einen Moment, sogleich einen Anflug von Erleichterung verspürend, inne –, denn war es überhaupt eine Lüge, sofern niemand von ihr wusste? War nicht jegliche Lüge so wie der kleinste Schwindel ohnehin kaum mehr als ein Schattenriss, solange alle Welt zwar zu wissen vorgab, was eine Lüge war, aber keiner präziser zu sagen vermochte, was die Wahrheit?
Und wenn selbst der amerikanische Präsident unablässig log, dass sich die Balken bogen, und den schamlos Belogenen überall auf dem Globus dazu nicht mehr als Entgegnung einfiel als ein neues, aus Dummheit geschöpftes Wort – postfaktisch –, vielleicht weil sie (vergebens) darauf hofften, ihrem Erstaunen über dessen Dreistigkeit wie auch ihrem stoischen Hinnehmen seiner Verlogenheit damit beizukommen – also, was war dagegen ihre eigene, fürs grosse Ganze sicher nichtige Lüge?
Ihre Grossmutter hatte ihr, als sie ein kleines Mädchen war, einmal gesagt, dass Notlügen keine Lügen seien, bloss eine Variante der Wahrheit, mit der man seinem Gegenüber Gutes tue, indem man ihm eine bittere Wahrheit erspare.
Ja, von ihr aus.
Wusste sie doch darum, dass man nie fragen durfte, ob einer belogen werden wollte – dass das eins dieser Dinge war, die sich niemand eingestehen wollte. Sogar dann, wenn er sich, für immer unangefochten von jedweder Selbstbefragung, in der Lüge behaglich einrichtete wie in einem heissen Schaumbad.
Als sie aus dieser Nacht erwachte, in der ihre Gedanken scheinbar ohne ihr Zutun wie Eichhörnchen die Baumstämme entlanggewetzt waren, verblüffte sie ihr massloser Appetit: Sie konnte gar nicht anders, als sich das Müsli morgens löffelweise in die Schale zu häufen, und mittags verschlang sie einen halben Schweinsbraten, der in einer dunkelbraun glänzenden Sauce schwamm, gefolgt von einem opulenten Schokoladenküchlein mit einem ebenso üppigen Sahnehäubchen obendrauf. Am Abend dann verdrückte sie zwei Teller Pasta, ein Kartoffelgratin für vier Personen, ein Schinkenbrot und einen Familienbecher Vanilleglace.
Das Mahlen ihres Kiefers wurde zur Begleitmelodie ihrer nächsten Tage und daher war es kein Wunder, dass die Waage am Ende dieser Woche dreieinhalb Kilo mehr anzeigte.
Das kümmerte sie jedoch nicht im Geringsten; im Gegenteil, es stärkte ihr Vertrauen in ihren Körper: dass er zu solch einer raffinierten Strategie imstande war! Einfach die Lüge mit Fleischmasse ummantelte, damit sie weich abgepolstert genug wäre, um niemandem wehtun zu können.
Und er, dem die Lüge tatsächlich etwas hätte anhaben können, hatte noch immer keine Ahnung, davon nicht und von nichts anderem, wenngleich er irgendwann einmal in jenen Tagen unvermittelt aufsah, die Brauen runzelte und ihr gemächliches Kauen mit der Frage unterbrach: «Herrje, du schaufelst ja wie ein Scheunendrescher, oder ist das nicht schon deine dritte Portion Polenta? Bist du vielleicht wieder schwanger?»
Es war ein Leichtes, ihn davon zu überzeugen, dass sie nicht schwanger war, denn sie war es nicht.
Eine Dörrpflaume im Speck, gross wie ein Ufo und auf Hochglanz lackiert wie ein brandneues Feuerwehrauto, segelte durch manchen ihrer Träume, und all ihr Sinnen und Trachten in solcherlei Nacht zielte darauf, die tiefblaue Verlockung am Speckzipfel zu erwischen und sie sich in den Mund zu zerren.
Nach und nach jedoch gewöhnte sie sich an ihren unentwegt nagenden Hunger, so wie man sich an alles gewöhnt. Fast hätte sie ihm sogar etwas Vergnügen abluchsen können, wäre das Gefühl der Leere in ihrem Magen nicht derart ausholend gewesen, dass es die Sehnsucht, sich nur einmal noch satt zu fühlen, im gleichen Masse steigerte.
Unmerklich verflocht sich die Lüge mit dem Banalen, und wer von aussen darauf gesehen hätte, wäre womöglich versucht gewesen, diese für eine ihrer älteren Freundinnen zu halten. Entgegen dem äusseren Schein allerdings konnte sie es keinen Tag lassen, sich mit der Behauptung zu beschwichtigen, dass die Lüge ihrer Vergangenheit angehörte – und was vergangen war, wie eingeschlossen in eine geballte Faust: die verhütete, dass sie ihre Finger in die Gegenwart strecken konnte.
Und weil man sich eben an alles gewöhnt, an Seligkeit wie Pein, man darüber höchstens dicker wird (oder gelegentlich auch dünner), und alles spätestens in der Ewigkeit zu einem breiigen Einerlei zerflossen sein wird, hinüber in die Unkenntlichkeit, vergisst man über kurz oder lang alle Unregelmässigkeiten. Und mit ihnen verschwinden das Stutzigwerden, die Ungläubigkeit und der Zweifel; an seine Stelle setzt sich das Arrangement, das nie eindeutig getroffen werden muss, um voll und ganz in Kraft zu treten. Wer wie sie dabei Glück im Unglück hat, der vergisst zugleich, welche Hochstimmung darüber aufkommen kann, den Faden eines verhedderten Strickstücks herauszuklamüsern und das Gesamte aufzuribbeln. Bis nur ein langfädiges Ende übrigbleibt.
Anuschka Roshani
Die 1966 geborene Berlinerin Anuschka Roshani hat Verhaltensbiologie studiert und die Henri-Nannen-Journalistenschule besucht. Viele Jahre hat sie beim «Spiegel» als Reporterin gearbeitet. Seit 2002 lebt sie mit ihrer Familie in Zürich und arbeitet für «Das Magazin». Kürzlich ist ihr autobiografisches Buch «Komplizen. Erinnerungen an meine noch lebenden Eltern» bei Kein & Aber erschienen, wo sie auch Truman Capotes Gesamtwerk herausgegeben hat.