kulturtipp: Anu Tali, nerven Sie Fragen zum Thema «Frau und Dirigierstab»?
Anu Tali: Na ja, ich nehme es hin, dass sich Leute dafür interessieren. Aber ehrlich gesagt, ist mir dieser Aspekt in meiner Arbeit komplett wurscht – in der musikalischen Sprache lässt sich nämlich geschlechterfrei kommunizieren!
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Ein bisschen interessiere ich mich schon dafür … Warum sind denn dirigierende Frauen bis heute eine Ausnahmeerscheinung?
Keine Frage, der Dirigierberuf ist historisch gesehen eine Männerdomäne. Aber dirigieren ist nicht nur ein Beruf, sondern ein Lebensstil. Haben Sie sich einmal dafür entschieden, wird Ihr Leben absolut davon beherrscht. Das muss jemand wirklich wollen, egal ob Mann oder Frau.
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Gibt es denn unter den wenigen international renommierten Dirigentinnen so etwas wie Frauensolidarität?
Ich stehe mit vielen Menschen in der ganzen Welt in Kontakt – und stellen Sie sich vor, sie sind weiblich und männlich (lacht). Sie sind grosse Musiker und Musikerinnen, aber auch wunderbare Freunde, mit denen ich stundenlang über Musik und das Leben debattieren kann. Ihr Geschlecht spielt für mich überhaupt keine Rolle.
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Sie kamen übers Klavierspielen zum Dirigieren. Was war es, was Sie am Dirigierstab reizte, was Ihnen das Klavier nicht bieten konnte?
Ich war nie Konzertpianistin, sondern merkte früh, dass das Orchester mein Instrument ist. Ich bin bis heute richtig verliebt in seinen Klang, und seine endlosen Möglichkeiten faszinieren mich nach wie vor zutiefst. Ausserdem liebe ich die Arbeit mit Menschen. Es ist immer wieder erstaunlich, eine gemeinsame Sprache zu finden, ohne ein Wort zu reden. Und es überwältigt mich, wenn es gelingt, auf dem Podium oder im Orchestergraben zur totalen Übereinstimmung zu gelangen.
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Und wie kriegen Sie das hin?
Oh, eine vollständige Antwort müsste endlos lang ausfallen. Da wäre einmal das handwerkliche Rüstzeug, das von zentraler Bedeutung ist. Aber das kann man erst anwenden, wenn man weiss, auf was man hinaus will. Darum muss man zunächst die Werke studieren, um zu erkennen, was alles in ihnen steckt. Dann sollte eine gute Dirigentin psychologisches Geschick mitbringen, um die Musiker behutsam dahin zu führen, wo man als Orchesterleitern hin will. Und auf jeden Fall braucht man sehr gute Nerven.
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Sie kommen aus dem Baltikum, wurden in Finnland und Russland ausgebildet und touren heute durch Europa und die USA. Können Sie da Unterschiede in der Auffassung von gutem Musizieren erkennen?
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Menschen – auch die Orchestermusiker – auf der ganzen Welt ähnlich ticken. Freilich hat jedes Land seine eigenen Traditionen, auch in der Musik. Und diese haben durchaus einen interessanten Eigenwert. Aber grundsätzlich würde ich doch eher nach einzelnen Orchestern als nach Ländern unterscheiden. Denn jedes Orchester hat seinen eigenen Atem, den es zuerst einmal zu erkennen gilt, um erfolgreich mit dem Klangkörper arbeiten zu können.
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Aktuell studieren Sie in Basel eine Gluck-Oper ein. Was liegt Ihnen mehr: Oper oder Konzert?
Was ich mir immer wünsche, sind gute Musik und grossartige Musiker. Eine Oper einzustudieren, erfordert einen ungleich grösseren Zeitaufwand als die Vorbereitung von Konzerten. Für mich ist der Unterschied letztlich ein emotionaler: Konzerte sind oft schon vorbei, kaum hat man die Leute ein wenig kennengelernt. Das kann ziemlich traurig sein. Bei der Oper hingegen sind die persönlichen Bande fester, da man über eine viel längere Zeit hinweg miteinander zu tun hat.
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Glucks «Telemaco ossia L'isola di Circe» ist ein unbekanntes Werk. Warum schafft es diese Oper eigentlich kaum in die Spielpläne?
Das Stück wurde für eine Hochzeit geschrieben. Für grosse Bühnen war dies in aufführungspraktischer Hinsicht vielleicht lange nicht sehr ansprechend. Und man kann nicht leugnen, dass das Stück etwas altertümlich wirkt und für eine wirkungsvolle Aufführung einer gewissen Erfrischungskur bedarf. Aber dem Werk liegt wundervolle Musik zugrunde, kein Zweifel.
[CD]
Erkki-Sven Tüür
Strata
Nordic Symphony Orchestra Ltg.: Anu Tali
(ECM 2010).
C.W. Gluck: Telemaco ossia L'isola di Circe
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