Es scheint gelassen in sich zu ruhen, das Paar im Vorruhestand-Alter: Gerri (Ruth Sheen) arbeitet als Psychologin, er, Tom (Jim Broadbent), ist gut geerdet als Geologe. Ein Leben lang sind sie schon zusammen. Das Häuschen ausserhalb von London ist ihr Heim, in dem sie öfter Besuch bekommen. Weiter draussen liegt ihr Schrebergarten, den sie aufsuchen, um ihn zu pflegen und im Jahresverlauf auch zu ernten: Das «weitere Jahr»
(Another Year) des Filmtitels ist gegliedert in Frühling, Sommer, Herbst und Winter.
Nicht allzu grosse Sorgen haben sich Gerri und Tom um ihren 30-jährigen Sohn Joe (Oliver Maltman) zu machen, obwohl: Erste Befürchtungen sind schon da, ob er auch bald eine Frau fürs Leben findet. Mit der Frohnatur Katie (Karina Fernandez), einer Alters-Ergotherapeutin, scheint Joe einer hoffnungsvollen Zukunft entgegenzublicken.
Mary ohne Mann
Ganz im Gegensatz zu Gerris Bürokollegin Mary (Lesley Manville), die an einer Art Torschlusspanik herummacht. Eine Ehe hat sie schon hinter sich, eine Beziehung mit einem verheirateten Mann ging in die Brüche, und so schaut sie sich verzweifelt wieder um. Ohne Erfolg. Mary schaut öfter vorbei im Häuschen, sie trinkt relativ heftig und agiert zusehends etwas zu viel des Guten. Hier tun
sich existenzielle Abgründe auf. Schusselig ihr Versuch, an glorreiche Zeiten anzuknüpfen: Sie, die seit 1984 nicht mehr Auto gefahren ist, legt sich wieder einen Wagen (Occasion) zu. Was allerdings nicht lange gut geht. Sie nimmt wieder die U-Bahn. Und sie bildet sich ein: «Ich bin so ein Halbes-Glas-voll-Typ von Mädchen.» Während die leicht Nervende in Tat und Wahrheit ihre Verzweiflung kaum zu kaschieren vermag.
Ken (Peter Weight) ist ein alter Studienkollege von Tom. Er wartet auf die Pensionierung, viel erwartet der Desillusionierte nicht mehr vom Leben, aber Liebe wünschte er sich doch noch.
Ein «Lebensfilm»
Leicht abschreckend wirkt sein T-Shirt-Aufdruck «Less Thinking, More Drinking». Er hat, wie Mary, ein Alkoholproblem. Als Toms Bruder Ronnie (David Bradley) Witwer wird, schleicht sich eine etwas rauere Tonlage in den Film: Ronnies Sohn Carl (Martin Savage) erweist sich, zu spät zur Kremation seiner Mutter gekommen, als Rüpel.
Nicht mehr und nicht weniger als menschliche Befindlichkeiten werden vorgeführt. Das ist viel, wenn es einer wie Mike Leigh anpackt. Alles scheint wie nicht inszeniert, das exzellente Ensemble scheint gar nicht zu spielen (natürlich ist das Gegenteil der Fall): Der britische Ausnahmeregisseur Leigh, so der Eindruck, scheint seinen Menschen und ihrem Leben einfach zuzuschauen. So «natürlich», dass es eine grosse Filmkunst wird, wie es eigentlich nur Mike Leigh machen kann.
So wurde aus dem «Jahresfilm» ein «Lebensfilm», in dem es alles hat: Familie und Freundschaft, Liebe und Tod, Geburt, Freude und Trauer, Hoffnung und Verzweiflung, Gemeinschaft und Einsamkeit. Filmisch auf ganz ungekünstelte Art angenehm vermittelt.