Annie ist ein Kind des Zweiten Weltkriegs. Sie muss aus Sicherheitsgründen alleine im stockdunklen Bunker übernachten, denn ihre Beine tragen sie bei Sirenenalarm nicht. Nach Kriegsende und dem Tod des Vaters ist Annies Mutter vollends beschäftigt mit der Nahrungsbeschaffung. Und sie erwartet Applaus, wenn sie nach einem langen Tag mit einem ergatterten Stück Butter in die provisorische Hütte kommt. Die Entbehrungen des Kriegs haben Auswirkungen: Als es wieder genug Nahrungsmittel gibt, isst sich die Mutter beinahe zu Tode. Und Annie ist distanziert geworden, abgehärtet durch die Abwesenheit der Mutter.
Ihrer eigenen Tochter sagt Annie Jahre später während derer Schwangerschaft, «dass Kinder sehr anhänglich täten und dass es gut sei, wenn sie so früh wie möglich lernten, ihren eigenen Weg zu gehen …» – so wie Annie selbst, die nie Kind sein konnte.
Annette Pehnt (siehe Interview) lotet in ihrem Roman die diffizile Beziehung zwischen Müttern und Töchtern über drei Generationen aus. In ihrer psychologischen Feinstudie erzählt Pehnt ohne Sentimentalität von den prägenden Erlebnissen und Ängsten der Mütter, die sie an ihre Kinder weitergeben – von der Suche nach Liebe, Geborgenheit und Nähe, die oft in Missverständnissen oder Schweigen endet. «Ich will, dass du kommst, aber noch dringender will ich, dass du kommen willst», sagt die Ich-Erzählerin, Annies Tochter, einmal, als ihre kühle Mutter sich einem Besuch verweigert.
«Chronik der Nähe» spielt innerhalb von sieben Tagen. Es sind die letzten gemeinsamen Tage der Ich-Erzählerin und ihrer Mutter Annie. Denn Annie liegt im Sterben, und ihre Tochter kann sich auf ihre vielen ungestellten Fragen zur Vergangenheit der Mutter nur noch selbst mögliche Antworten geben. Der Monolog der Ich-Erzählerin und Rückblenden in die Vergangenheit ihrer Mutter und Grossmutter wechseln sich ab und zeichnen ein präzises, einfühlsames Bild dreier Frauengenerationen.
Laut Jury erhält Pehnt den Solothurner Literaturpreis für ihre «hoch sensible Prosa, in der sie gesellschaftliches und familiäres Zusammenleben mit grosser Genauigkeit bis in seine feinsten Verästelungen auslotet». Ein Prädikat, das auch für ihren neusten Roman mit seinen funkelnd schlichten Sätzen gilt.
4 Fragen an Annette Pehnt zu ihrem neuen Roman «Chronik der Nähe»
kulturtipp: Frau Pehnt, Sie sind selbst Mutter dreier Töchter, Ihre eigene Mutter ist während der Nazizeit aufgewachsen. Im Geleitwort Ihres Romans zitieren Sie Franz Kafka und die Tücken der selbstbiografischen Untersuchung. Warum haben Sie sich für das Thema der Mutter-Tochter-Beziehung entschieden?
Annette Pehnt: Ich glaube, dass ich biografisches Material, also meine eigenen Lebensthemen, am besten schreibend untersuchen kann, mit Hilfe von Fantasie und Fragment. So komme ich mir eher auf die Spur; dieses Buch ist eine Art Forschungsarbeit für mich gewesen. Wie hätte es gewesen sein können? Was ist der Kern einer Biografie, falls es überhaupt einen gibt? Wie können es Mütter und Töchter miteinander aushalten, was ist das für eine Konstellation? Die Figuren sind zusammengesetzt aus Gehörtem, Familienanekdoten, Gesammeltem und freier Fantasie.
Die Tochter hält der Mutter einen Spiegel vor. Was macht die Beziehungen zwischen Müttern und Töchtern im Roman so schwierig?
Vor allem das Netz der Erwartungen, aus dem sich beide Seiten nie befreien können. Mütter und Töchter sollen sich lieben, sollen sich nahestehen, sie wollen es auch. Aber gerade weil der Druck so hoch ist, gibt es keinen Spielraum, und damit ist der Konflikt schon vorgebahnt. Im Druckkochtopf liebt es sich schlecht. Dazu kommt, dass die Muttergeneration, um die es hier geht, gelernt hat, ihre Gefühle, ihre Ängste vor allem, wegzuschliessen. Eine innere Distanz scheint mir die Überlebensstrategie der Kriegskinder zu sein. Zugleich dringt die Tochter auf Liebesbekenntnisse, auf Gefühlsbekundungen, auf offensichtliche Nähe – eine Pattsituation, die sich nur ganz selten mal einen Augenblick aufheben lässt.
Männer sind in Ihrem Roman Randfiguren. Sie werden meist nur mit allgemeinen Begriffen wie «der Junge» oder «der Richtige» benannt. Warum diese Abwesenheit der Männer, die meist ja auch an der Erziehung der Kinder beteiligt sind?
Das war eine erzählerische Entscheidung. Ich wollte das Buch wie ein Spielfeld abgrenzen, um dafür umso genauer auf die Frauenkonstellation schauen zu können. Wenn dann auch noch die Männer ins Spiel kommen, wird es unüberschaubar. Ausserdem waren viele Männer in den letzten Kriegs- und in den Nachkriegsjahren physisch nicht anwesend. Sie waren an der Front, in Gefangenschaft, tot oder weg.
Die Beziehung von Annie und ihrer Mutter wird aus der allwissenden, distanzierteren Perspektive geschildert, während eine Ich-Erzählerin von ihrer Beziehung zur Mutter Annie berichtet. Warum haben Sie diese unterschiedlichen Perspektiven gewählt?
Eine ganz wichtige Entscheidung, an der ich lange getüftelt habe. Ich wollte den Monologen der Ich-Erzählerin, dieser Ansprache an die Mutter mit all ihrer Einseitigkeit, auch Ungerechtigkeit, Bedürftigkeit, ihrem Liebeshunger, etwas entgegensetzen: Einen Blick auf Annies mögliches Leben, vielleicht das, was sie erzählen würde, wenn sie könnte, oder das, was sich ihre Tochter immer von ihr wünscht und hier vielleicht fantasiert. Über die Annie-Episoden setzt sich nach und nach ein anderes Bild der Mutter zusammen, das vielleicht nichts erklärt, aber doch manches klarer macht. Im Grunde ist das eine Art poetische Gerechtigkeit.
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Annette Pehnt
«Chronik der Nähe»
224 Seiten
(Piper 2012).
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