Früher war nicht alles besser. Auch wenn es sich danach anfühlt, wenn Wehmut und Nostalgie sich mal wieder verbünden und einen mit Geschichten von damals quälen. Verfälschte Erinnerungen in Slow Motion mit perfekter Hintergrundmusik. Aber die Jugend war nicht nur gut.
Die Vorfreude auf die Ferien ist oft grösser als die Zufriedenheit vor Ort. Und Ex Freunde hatten durchaus schlechte Seiten – wir haben sie nur verdrängt. Die Wahrheit liegt vermutlich irgendwo dazwischen. An einem Punkt, den man übersieht, weil er weder Anfang noch Ende hat.
In einer meiner absoluten Lieblingsserien der 90er sagt eine der Hauptfiguren nach einem Todesfall, dass der Ausspruch «Leben und Tod» irreführend sei, weil der Tod nicht das Gegenteil von Leben ist. Weil Leben kein Gegenteil hat. Das hat mich lange beschäftigt: dass nicht alles aus Anfängen und Enden besteht.
Dass wir hier sind und dann nicht mehr. Dass das Älterwerden wie ein Kennenlernen seiner selbst ist. Eine Schicht nach der anderen, die uns Eltern und die Gesellschaft überstülpen, und wir streifen sie dann Stück für Stück wieder ab. Ein Ver- und Enthüllen unseres Wesens, das sich Jahre hinzieht. Anpassen, anecken, dazugehören – und irgendwann sich selbst genügen.
Ich will nicht mehr 16 sein. Das war anstrengend. Aber 42 sein ist es auch. Mit dem signifikanten Unterschied, dass ich besser weiss, wer ich bin. An den meisten Tagen mag ich diese Person. Da finde ich sie ziemlich witzig und geistreich und schlagfertig. Da verstehe ich, dass man sie gern um sich hat. An anderen will ich schreiend in die entgegengesetzte Richtung rennen.
Ich will in ein Flugzeug steigen und nie wiederkommen. Meiner Empfindlichkeit entfliehen. Dem Ohrgeräusch, das mich seit Monaten plagt. Der Tatsache, dass ich auf dem Sofa liegend anderen beim Sport zuschaue, statt selbst in die Gänge zu kommen. Denn ja: Ich hätte gern mal so ein Runner’s High, aber laufen will ich halt nicht. Weils nicht läuft bei mir. Weil ich müde bin. In der Grundschule war das Zeitwort noch ein Tunwort. Jetzt tue ich andauernd irgendwas und habe kaum noch Zeit.
In meiner Jugend dachte ich, erwachsen sein bedeutet, man hat eine Wohnung, einen Führerschein und Sex. Heute kann ich liebevoll darüber lächeln. Über diese naive Version von mir, die geglaubt hat, sie würde ihre erste grosse Liebe heiraten. Um das klarzustellen: Ich schaue nicht auf sie runter.
Ich nehme sie liebevoll in den Arm und tröste sie. Weil sie noch immer da ist – irgendwo in meinem Inneren. Unter den Lebensringen und der Erfahrung. Unter all dem Erwachsensein, das aus dem Jetzt betrachtet recht wenig mit einem Führerschein und Sex zu tun hat, sondern mit Verantwortung und Rechnungen.
Vielleicht war früher nicht alles leichter. Sondern ich. Keine Ängste vor der Zukunft. Vor Krankheiten. Vor drohenden Kriegen. Weniger Kilos, dafür mehr Trübsinn. Meist wegen Dingen, die heute nicht mehr ins Gewicht fallen. Die erste Liebe – zu lang her. Der erste Schlussstrich – glücklicherweise auch. Miss-Sixty-Hosen, die so tief auf der Hüfte sassen, dass man sich nicht bücken durfte.
Überall Arschgeweihe, Tangas, Bauchnabelpiercings – ich hatte keins, ich hatte andere. Eine halbe Jugend ohne Handy, kein Internet, das Display klein wie ein Daumennagel. Eine SMS bestand aus 144 Zeichen. Man kann verdammt lang warten auf Kurznachrichten, das weiss ich noch.
Nein, ich will nicht zurück.
Aber wenn ich die Musik von damals höre, werde ich trotzdem wehmütig. Da wacht etwas in mir auf. Etwas, das lebendig ist und sich nicht stillhalten kann. Erinnerungen an Abende, die lebensverändernd waren. An (schlechten) Sex und zu viele Zigaretten, an Katerfrühstücke, bestehend aus Sp≠iegeleiern und gebratenem Wacholderschinken. An Dawson’s Creek auf dem Sofa mit dröhnendem Schädel und Vorfreude aufs nächste Wochenende.
An lange Telefonate, in denen man Ich so und Er so sagte. Ich so: Nicht dein Ernst und er so: doch, voll. An «(What’s the Story) Morning Glory?» von Oasis. An «Teenage Dirtbag» von Wheatus, an «Killing Me Softly» von The Fugees. Voll aufgedreht in meinem ersten Auto – einem klapprigen bronzefarbenen Renault Clio mit Kassettendeck. An die Wege, die ich damit gefahren bin, rauchend, mit offenem Fenster.
An die endlosen Monate voller Liebeskummer – ein Liebeskummer, der mich aufgefressen hat. An den Anrufbeantworter in unserem Keller, der über Glück und Unglück entscheiden konnte. An Sätze wie: Du lernst jemand anderes kennen. Und meine Angst davor, dass das stimmt.
Heute sind es geregelte Bahnen. Und das hat was. Beständigkeit. Mehr Ruhe – wenn man von dem verdammten Piepen in meinem Ohr absieht. Weniger Dinge, dafür mehr Qualität. Mich interessiert viel, aber ich setze wenig um. Vielleicht weil ich generell so viel sitze. Ein sitzender Marathon nach dem anderen: Coming of Age, Belletristik, Spannung. Doch ausserhalb meiner Bücher komme ich nicht ins Handeln.
Ich würde gern Aerobic machen. Und Thai Chi. Und unseren Parkettboden selbst abschleifen. Es wäre schön, (richtig gut) Bowling spielen zu können. Und Fliesen legen. Mobility Training klingt reizvoll. Und es wäre wirklich sinnvoll, gesund zu essen. Vegan und antientzündlich.
Seit ein paar Monaten spiele ich mit dem Gedanken, eine Soirée fixe mit Freundinnen ins Leben zu rufen, an der wir gemeinsam kochen. Stattdessen scrolle ich durch Instagram und speichere immer neue Rezepte, von denen ich den Grossteil vermutlich nie ausprobieren werde.
Vielleicht liegt es an mir. Oder am Überfluss. An den vielen Möglichkeiten, die mich in der Summe lähmen. An der Tatsache, dass das bei anderen alles so einfach aussieht: das Leben, der Sport, das gesunde Essen. Zuckerfrei, nur mit Datteln gesüsst, kein Mehl, gemahlene Mandeln.
Ich sehe das und denke: Das sollte ich auch mal machen. Und dann denke ich: Ich mag dich auch so. (Zumindest an den Tagen, an denen ich nicht schreiend in die andere Richtung rennen will.) Und ich finde, das ist ein Anfang. Und das Ende hoffentlich noch weit weg.
Zur Person
Anne Freytag ist 1982 in München geboren. Sie hat International Management studiert, sich zur Grafikdesignerin umgeschult, bis sie sich ganz ihrem Traum widmete: dem Schreiben. Kürzlich ist ihr Roman «Lügen, die wir uns erzählen» erschienen. Sie schreibt für Erwachsene und Jugendliche und wurde für ihre Romane mehrfach mit Literaturpreisen ausgezeichnet – unter anderem mit dem Bayerischen Kunstförderpreis. Die Autorin lebt in München.