Seit 20 Jahren wird der Prix d’honneur an den Solothurner Filmtagen verliehen – als Zeichen der Wertschätzung für Filmschaffende, die oft im Verborgenen wirken. Mit Anna van Brée ist erstmals eine Kostümbildnerin ausgezeichnet worden. «Eine tolle Anerkennung meiner Arbeit», sagt die in Lausanne wohnhafte Belgierin im ZoomGespräch. «Es zeigt auch, wie wichtig Kostüme für einen Film oder ein Theaterstück sind. Mir persönlich geht es nicht nur ums Einkleiden von Figuren, sondern auch um Dramaturgie und geschichtlichen Kontext.»
Das konnte man bereits in van Brées erster Wegmarke sehen – dem faszinierend klaustrophobischen Spielfilmdebüt «Home» (2008) von Ursula Meier. Seither arbeiten die beiden regelmässig zusammen. Geblieben ist indes van Brées Vorliebe für Erstlinge: «Man kann da gemeinsam einen eigenen Stil, eine eigene Ästhetik entwickeln.»
Ein Kleid wie eine zerbrochene Teetasse
Ein solches Debüt ist «Retour en Alexandrie» von Tamer Ruggli. Der Schweizer Regisseur mit ägyptischen Wurzeln erzählt die Geschichte von Sue (Nadine Labaki), die nach 20 Jahren aus der Schweiz nach Ägypten zurückkehrt, weil ihre Mutter (Fanny Ardant) im Sterben liegt. Der Clou: Die Mutter schreckt die Tochter immer wieder in Tagträumen auf und trägt dabei ein knallgrünes Kleid. Warum?
«Die von Fanny Ardant gespielte Figur ist ein Fan der Sängerin Dalida. Deshalb wollten wir den Diva-Aspekt herausstreichen. Dafür brauchten wir eine Farbe, die auf den Strassen in Ägypten selten zu sehen ist», sagt van Brée. Das Material sollte aussehen, als ob es aus einem Cartoon stammt. «Der Stoff ist etwas zu flach, das Leopardenmuster nicht echt.» Ganz anders ist die Tochter angezogen: In der Schweiz trägt sie einen beigeweissen Anzug, in Ägypten kauft sie sich als Erstes ein blau-weiss gemustertes Kleid.
«Sue muss lernen, sich selbst zu akzeptieren», sagt van Brée. «In der Schweiz ist sie noch eine Businessfrau ohne jedes Privatleben. Erst in Ägypten beginnt ihre Reise zu sich selbst.» Regisseur Ruggli habe sich deshalb ein Kleid gewünscht, das wie eine zerbrochene Teetasse aussieht. Doch wo findet man so etwas? «Ich dachte zunächst, ich könne diese Vintagestücke in Ägypten auftreiben», sagt van Brée. «Aber meine ägyptische Assistentin erklärte mir, dass es in Kairo keine Secondhandläden mehr gebe.
Deshalb mussten wir alles aus der Schweiz importieren.» Auch bezüglich Dresscodes sei die Assistentin eine riesige Hilfe gewesen. Eine solche Szene hat es auch in den Film geschafft: Nach der Beerdigung der Mutter wird Sue von einer Dienerin gefragt: «Was zum Teufel trägst du da?» Van Brée erklärt: «Der Fauxpas besteht darin, dass Sue einen simplen Citydress trägt. Ihr einziger Effort ist ein schwarzer Schleier. Das zeigt uns, dass sich diese Figur von den Traditionen lösen und fortan ein selbstbestimmtes Leben führen will.»
Retour en Alexandrie
Regie: Tamer Ruggli, CH/EG 2023
93 Minuten, ab Do, 21.3., im Kino
Anna van Brées Kulturtipps
Literatur
Toni Morrison: Menschenkind (Rowohlt 1989)
«Im Roman beschreibt die Nobelpreisträgerin den Leidensweg einer Sklavin und den Kampf um Selbstbehauptung. Morrison schreibt in der Sprache der Leute, die sonst keine Stimme haben.»
Ausstellung
Unravel – The Power and Politics of Textiles in Art
«Seit den 60ern haben Künstlerinnen und Künstler Textilien dazu benutzt, um über Marginalisierung und Emanzipation zu sprechen. Die Ausstellung in der Barbican Art Gallery in London zeigt die Entwicklung des weiblichen Blicks.»
Performance
Uproar (Arsenic, Lausanne)
«Die Choreografin Simone Aughterlony und der bildende Künstler Michael Günzburger haben in dieser immersiven Performance die Figur der Chimäre im Jetzt verortet. Etwas vom Besten, was ich auf der Bühne gesehen habe.»