Ava: Angehende Ornithologin, wohnt bei Elsa
Paul Faber: Polizeibeamter
Elsa: Polizeibeamtin
Mathilde: Elsas Cousine, wohnt bei Elsa
Simon M.: Flüchtiger Bekannter von Ava
Julián: Freund von Ava
Es ist kurz nach halb sieben, als Ava die Tür hinter sich ins Schloss fallen lässt und sich die schweren Schuhe von den Füssen streift, die warme Jacke über den Kopf. Die Wohnung liegt im Dunkeln, Elsa ist noch bei der Arbeit und ihre kleine Cousine Mathilde – irgendwo. Ava macht kein Licht an, als sie durch den Flur geht, sie lässt den Rucksack vor ihrer Zimmertür zu Boden gleiten. Ihrer Zimmertür. Ihr Zimmer. Als ob. Als ob nicht Mathilde bereits Elsas Gästezimmer bewohnte, als ob die kleine Abstellkammer, in der Ava die letzten Wochen geschlafen hat, ein Zimmer wäre. Ihr Zimmer. Doch sie kann nicht klagen, sie ist Elsa dankbar, der Raum hat ein Fenster, das auf den Hof hinausgeht, und über ihrem Bett hängt ein Bild von einem Schwan und wer weiss, wo sie sonst … irgendwo, wahrscheinlich.
Ava geht weiter in die Küche, wo sie den Lichtschalter kippt. Auf dem Tisch liegen die Post des Tages und eine kurze Notiz von Mathilde: Bin im Stall, 19.30 zurück. Lasagne ist im Kühlschrank, wie abgemacht. Ava: 45 min bei 220°C. Bis dann xx M. Ava zerknüllt den Zettel und wirft ihn in den Korb mit Altpapier, sie hat nicht mehr daran gedacht, dass Mathilde für heute einen «Mädelabend» geplant hat, mit Kochen und Filmschauen und solchem Chichi; ihr wäre ein ruhiger Abend lieber. Nach der letzten Nacht. Nach Paul. Sie kann ihn immer noch an sich riechen.
Ava unterdrückt ein Gähnen und sieht den Stapel mit Post durch, Rechnungen für Elsa, Briefe von Mathildes Schule für Mathilde, eine Postkarte für sie: der «Vergessliche Engel» von Klee. Ava liest: Seit Indien, Ava, seit Indien. Die Leere ist, die Leere bleibt. Seit Indien. J. Julián, denkt sie, und lässt die Karte auf den Stapel zurückfallen, Julián.
Die Ziffern am Backofen blinken neongrün, 18.47, Ava geht ins Wohnzimmer und stellt den Fernseher ein. Ein Team vom Lokalsender war heute im Institut, sie haben sich für die toten Schwäne interessiert, es hiess, der Beitrag werde abends stündlich gesendet. Sie sucht den Sender, es läuft eine Gesundheitssendung zum Thema Hirnwasserverlust. Sie stellt die Lautstärke etwas höher und geht in die Küche zurück, sie hofft, sie kann die Schwäne hören.
Ava schenkt sich ein Glas Wasser ein, löscht das Licht und setzt sich an den Tisch, Magnete halten nicht sichtbare Fotos von abwesenden Menschen an der Kühlschranktür fest, und durch die Glastür sieht sie auf den schmalen Balkon hinaus, die Fenster anderer Leute Wohnungen schweben erleuchtet in der Finsternis. Ava löst ihr zusammengebundenes Haar und legt den Kopf auf die Tischplatte, das Holz angenehm kühl an ihrer heissen Stirn. Ava steht auf und dreht die Knöpfe am Backofen, es ist jetzt nach sieben und aus dem Wohnzimmer erreichen sie Bruchstücke der Nachrichten. Licht leuchtet im Innern des Ofens auf, ein Brutraum, denkt sie, pro zehn Grad verdoppelt sich die Reaktionsgeschwindigkeit. Ava nimmt die Form mit der Lasagne aus dem Kühlschrank und schiebt sie in den Ofen. Der Fernseher sagt, … vor der Schaltung ins Ornithologische … tragischer Vorfall … zuständiger Polizeibeamter Paul Faber … 19.13 blinken die Ziffern an der Ofentür, Paul, denkt Ava, als sie sich umdreht und zurück ins Wohnzimmer eilt, sie läuft gegen den Küchentisch, dessen Ecke sich in ihre Hüfte bohrt, sie stösst sich den Fuss an Elsas Klavier, sie merkt nicht, dass sie zu atmen aufgehört hat. Sie setzt sich auf das Sofa und denkt, Paul, und auf dem Bildschirm springt eine schemenhafte Gestalt von einem hohen Gebäude, und während der Schatten fällt, sagt jemand, den sie nicht sehen kann, … heute Nachmittag nach mehreren Stunden … vergeblich versucht … Zusammenhang mit vermisstem Familienvater …, und bevor der Schatten aufschlägt, erscheint das Gesicht zur Stimme und ein Foto wird eingeblendet, ein Kopf mit schwarz verbalkter Augenpartie und darunter steht Simon M., und Ava denkt, ich kenne ihn, es ist der Junge von neulich, der Junge mit der Prince-Kassette. Sie denkt «Junge», und dabei ist er – war er mindestens so alt wie sie, der Junge vom See. Die Stimme sagt, … wenige Stunden nach dem Vorfall … Pressekonferenz mit dem für den Fall zuständigen Beamten Paul Faber …, und tatsächlich, da ist zuerst für einen Augenblick Elsa und dann Paul, sein Kopf nur auf dem Monitor. Seine blauen Augen sehen mich, denkt Ava, er ist müde, traurig, denkt sie und nimmt die Fernbedienung und hält das Bild an: Pauls Kopf, bildschirmfüllend. Ava lässt sich vom Sofa auf den Boden gleiten, die Fernbedienung in der Hand, ihre Knöchel werden weiss, die Sehnen zeichnen sich ab, Zeit verliert sich.
Die Wohnungstür geht auf, ich bin es, ruft Mathilde, sorry, dass ich so spät bin, sagt sie und spricht weiter, während die Absätze ihrer Reitstiefel auf dem Flurboden klackern, Elsa kommt nicht, wieder irgendein Notfall.
Ich weiss, denkt Ava, und Mathilde ruft, puh, was stinkt hier eigentlich so, total verbrannt, und sie geht in die Küche,
Mensch Ava, ruft sie, wütend jetzt, das war meine Lasagne, und sie kommt aus der Küche und ins Wohnzimmer, wo sie sich neben Ava aufs Sofa fallen lässt.
Ich muss hier weg, denkt Ava, und Mathilde sagt, hast du gehört, Vogelfrau, das war meine Lasagne.
Ich muss hier weg, denkt Ava, und sie sagt, du riechst nach Stall, und Mathilde sagt, ich weiss, ich riech’ nach reifen Äpfeln und nach Heu und nach den Pferden, doch sag, wer ist Julián, und dann blickt sie auf und sieht Pauls Kopf, und sie fragt, ist das dein Paul, Vogelfrau.
Und Ava denkt, ich muss hier weg.
Bald.
Schnell.
Anna Stern
Die 26-jährige Autorin ist in Rorschach geboren und studiert an der ETH Zürich Umweltnaturwissenschaften. 2014 veröffentlichte sie im Salis Verlag ihr Romandebüt «Schneestill». 2016 erschien ihr Krimi «Der Gutachter» – auf einige der Figuren und Ereignisse nimmt sie in dieser «Carte blanche» Bezug. Kürzlich ist ihr Erzählband «Beim Auftauchen der Himmel» erschienen.
www.annastern.ch