Vor gut sechs monaten bin ich umgezogen. es war kein einfaches jahr, und bis vor kurzem hätte ich diesen umzug als das mit abstand beste bezeichnet, was mir seit langem widerfahren ist. das neue haus verfügt über vier stockwerke, plus keller und dachstock, und besteht aus einem vorder- und einem hinterhaus à zwölf wohnungen. es liegt in einem ruhigen viertel am stadtrand, direkt hinter der endhaltestelle und dem tramdepot. während mich das rangieren der ersten und letzten kompositionen in den ersten wochen frühmorgens und spätabends noch regelmässig aus dem schlaf gerissen hatte, gewöhnte ich mich bald daran.
ich war an einem trüben samstag im frühling eingezogen, und nachdem ich den plattenspieler eingesteckt, eine pizza in den ofen geschoben und sichergestellt hatte, dass auch der gerahmte originalabzug von david bowie als cello spielendem vampir den transport in die neue wohnung unbeschadet überstanden hatte, klopfte ich an die türen meiner nachbarn im vorderhaus. ich traf jedoch keinen von ihnen zu hause an. elfmal klopfte ich, elfmal schaute ich zum klingelschild und kombinierte in gedanken den namen mit dem sätzchen, das ich mir zur vorstellung zurechtgelegt hatte. vergeblich. dass sich daran auch in den folgenden wochen nicht viel änderte, fand ich zunächst seltsam, hatte ich doch zuvor in ähnlich grossen häusern gewohnt, in denen der austausch zwischen den mietparteien zwar oberflächlich, aber immerhin von einer gewissen regelmässigkeit geprägt war. bald jedoch fügte ich mich in die neue anonymität und begann sie sogar zu schätzen. ich vermied es aktiv, meinen nachbarn zu begegnen, lauschte ins treppenhaus hinaus, bevor ich die wohnung verliess, und benutzte die waschküche nur frühmorgens, oft sonntags, wenn sonst niemand wach war. ich machte es mir zum vergnügen, die namen an den briefkästen zu lesen und mir dazu geschichten, ja ganze lebensläufe und schicksale auszudenken. der einzige name, zu dem sich bald ein echtes gesicht, eine tatsächliche geschichte materialisierte, war f. parker oder freda parker, und dies auch nur, weil freda mich bat, für zwei wochen auf ihre katze aufzupassen. alle anderen – k. krabat, a. & o. ros, v. linn und wie sie alle heissen – blieben so gesichts- und geschichtslos, wie sie es bei meinem einzug waren.
auch wenn meine arbeit in der klinik anspruchsvoll ist, so ergeben sich zwischen den sitzungen mit den patienten doch genug stille minuten, um mich an den biografieentwürfen meiner unbekannten mitbewohnerinnen und mitbewohner zu versuchen. zu hause wiederum erlaubte mir die ringhörigkeit des gebäudes, aus fredas schritten über mir ein aktivitätsmuster abzuleiten, und es liess sich nicht vermeiden, dass ich die auseinandersetzungen meiner direkten nachbarn (moretti) mitkriegte und sie in meine gedankenkonstrukte einfliessen liess, genauso wie die fetzen arabisch aus dem treppenhaus, von denen ich mir gestattete, sie s. bekthari zuzuordnen. mein herumfantasieren wurde dadurch genährt, dass häufig, wenn ich morgens das haus verliess oder abends zurückkehrte, auf der mauer zur strasse hin diverse gegenstände lagen, begleitet von einem zum-mitnehmen- oder for-free-schild. zuerst fand ich dort ausgelesene schundromane, kuss im morgengrauen, feuer und flamme für felix, solche sachen, wenig später dann teller und tassen mit sprüngen und immer wieder billige damenkleidung, gar schminksachen, angebrochene puderdosen oder eine sammlung halb voller nagellacke in regenbogenfarben. ich wunderte mich nicht nur über die personen, die so selbstbewusst davon ausgingen, es bestehe eine nachfrage für ihren aussortierten hausrat. noch mehr staunte ich darüber, dass die verhudelten plüschtiere, ausgelatschten turnschuhe und der plastikkitsch in rosa und glitzerstaub immer schon von der mauer verschwunden war, wenn ich das nächste mal vorbeiging. (die zweieinhalb meter lange und autoreifendicke orientteppichrolle, die an einem morgen fest verschnürt an der strasse stand, war ausnahmsweise tatsächlich mit gebührenmarken für die müllabfuhr markiert.) da ich nie jemanden beobachtete, der seine waren dort deponierte oder welche mitnahm, hatte ich alle freiheit, den gegenständen geschichten und die gegenstandsgeschichten den fantasiebiografien meiner unbekannten mitbewohner zuzuordnen: das mit tomatensauce bekleckerte kochbuch ordnete ich m. iavelberg zu, wohnhaft im parterre und mich beim nachhausekommen immer mit schmackhaften gerüchen aus dem offenen küchenfenster betörend; ein ausgewaschenes i-♥-new-york-t-shirt gehörte t. rigolet, zu schäbig selbst als pyjama, zu sehr mit erinnerungen belastet, um zum putzlappen umgenutzt zu werden; der nasenlose plüschigel, von d. kozol auf der mauer ausgesetzt als endgültiger bruch mit der kindheit.
das geschichtenausdenken bereitete mir freude. es erlaubte mir, eine gewisse distanz zu den schicksalen meiner patienten zu bewahren, die pausen zu füllen, wenn einer mal wieder bloss schwieg. darüber hinaus gab es mir ein gefühl von kontrolle über meine umgebung, und ich war von woche zu woche mehr zu hause am neuen ort. ich bin ein genügsamer mensch und suche mir meine freuden im kleinen. noch fehlen mir deshalb die worte, um das zu bezeichnen, was zerbrach, als ich letzten freitag in freudiger erwartung eines stillen wochenendes in meine strasse einbog. schon von weitem sah ich die polizeiwagen, und vor dem haus hatte sich eine menschentraube gebildet. beim näherkommen entdeckte ich freda zwischen ihnen, zwischen k. krabat, t. rigolet und v. linn, umringt von d. kozol, a. & o. ros, s. bekthari und m. iavelberg. und ich, ich stand zwischen ihnen, als die polizisten ihn schliesslich abführten, moretti, einen von uns. es heisst, er habe seine frau umgebracht, sie mit dem kochbuch erschlagen, in einen teppich gewickelt und an die strasse gestellt.
Anna Stern
Anna Stern (*1990) ist im sanktgallischen Rorschach aufgewachsen, hat Umweltwissenschaften an der ETH Zürich studiert und promoviert zurzeit im Bereich Integrative Biologie. 2014 ist ihr Debütroman «Schneestill» erschienen. 2019 erhielt sie an den Ingeborg-Bachmann-Tagen in Klagenfurt den 3sat-Preis. Für ihren neuen, vierten Roman «das alles hier, jetzt.» (Elster & Salis) über den Verlust eines geliebten Menschen wurde sie kürzlich mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet. Die Autorin lebt in Zürich.