Sie ist «falsch und verlogen», sie ist «rassistisch und eine Alkoholikerin». Mit diesen Attributen beschreibt die Thurgauer Schauspielerin Anja Tobler die Figur der Blanche DuBois, die sie gegenwärtig am Theater St. Gallen in der Inszenierung von Tennessee Williams’ «Endstation Sehnsucht» spielt. «Aber trotzdem liebe ich sie, denn sie hat Humor», sagt Tobler. Blanche DuBois verkörpert die klassische «Southern Belle», die Schönheit aus dem US-Süden, deren Glamour Fassade ist. «Ich gehe in dieser Rolle auf. Ich vertrete diese Figur, auch wenn ihr Charakter unangenehm ist.»
Anja Tobler sitzt in ihrer Alltagskleidung im Café Concerto im St. Galler Museumsviertel. Die Schauspielerin hat soeben eine Probe hinter sich und freut sich auf ein schauspielfreies Wochenende.
Nach Tennessee Williams ein Stück von Franz Kafka
Als Anja Tobler die Rolle der exaltierten DuBois zugesprochen erhielt, schaute sie zuerst den legendären Film mit Marlon Brando und Vivien Leigh aus dem Jahr 1951: «Ich wusste sogleich, dass ich diese Rolle nie so spielen werde.» Tatsächlich ist die St. Galler Inszenierung zeitgemässer als die Nachkriegsproduktion: «Wir klammern die Homosexualität nicht aus.» Schriftsteller Tennessee Williams war schwul und verglich sich einmal selbst mit der Figur DuBois.
Anja Tobler wuchs in Frauenfeld auf. Nach dem Besuch der Hochschule für Theater und Musik in Zürich hatte sie zeitweilige Engagements am Luzerner Theater, am Theater Basel oder am Konzert Theater Bern. Seit drei Saisons gehört sie zum Ensemble des Theaters St. Gallen. In diesem Beruf ist es ungewöhnlich, in der Herkunftsregion zu spielen und damit einen Heimvorteil zu geniessen: «So kann ich nahe bei meiner Familie sein und meine Freundinnen regelmässig treffen.» Die 40-jährige Schauspielerin lebt mit ihrem Partner und dem achtjährigen Sohn in St. Gallen.
Bald steht mit der Bühnenfassung von Franz Kafkas Roman «Der Prozess» die nächste Premiere für Anja Tobler auf dem Programm. Sie spielt darin das Fräulein Bürstner, die Bürokollegin des Protagonisten Herrn K., der in eine absurde Justizmühle gerät. Die Figur ist eine Karikatur des Weiblichen: «Aber wir verleihen ihr einen eigenständigen und pragmatischen Charakter», sagt Tobler.
Das Lernen der Texte falle ihr leicht: «Nichtschauspieler neigen dazu, diese Arbeit zu überschätzen.» Ein Rezept für das Auswendiglernen gebe es nicht: «Ich muss meine Passagen lesen und immer wieder lesen.» Das sei die Voraussetzung, um vor einem vollen Haus mit 700 Leuten bestehen zu können: «Dann habe ich einen Adrenalinschub – das ist unglaublich», sagt Anja Tobler.
Theater
Endstation Sehnsucht
Bis So, 2.2.
Theater St. Gallen
Der Prozess
Premiere: Fr, 10.1., 19.30
Theater St. Gallen
Anja Toblers Kulturtipps
CD
Bonnie «Prince» Billy, Bryce Dessner, Eigth Blackbird: When We Are Inhuman
«Die bezaubernde Naivität traditioneller Folk-Songs trifft auf komplexe Neue Musik. Daraus ergibt sich eine wunderbar dunkel-melancholische Klangwelt, die mein Herz sofort berührt.»
Buch
Meg Wolitzer: Die Zehnjahrespause (Du Mont 2019)
«Humorvoll, präzise und spannend geschrieben. Auch Meg Wolitzers «Die Interessanten» (2013) und «Das weibliche Prinzip» (2018) sind ein Lesevergnügen.»
Kulturweg
Robert-Walser-Rundweg, Herisau
«Einer meiner liebsten Schweizer Schriftsteller ist Robert Walser. Darum will ich bald den Rundweg in Herisau ablaufen. Wo ich doch so nahe wohne!»