«Ich erinnere mich an alles», sagt Gracie (Stimme: Sarah Snook), nachdem ihre Uraltfreundin Pinky (Jacki Weaver) gerade ihren letzten Atemzug getan hat. Höchste Zeit für die Frau im mittleren Alter, ihr eigenes Leben zu rekapitulieren und die gesammelten Tragödien ihrer Lieblingsschnecke Sylvia (benannt nach der Autorin Sylvia Plath) zu erzählen. Bitte, was?
Dekorativ inszeniertes Verderben
Schräg, morbid und himmeltraurig – es wären zu höfliche Umschreibungen für den Animationsfilm «Memoir of a Snail». Und man muss schon einige Chuzpe haben, um mit so viel dekorativ inszeniertem Verderben von einer einzigen Lebens-Pechsträhne zu erzählen. Der australische Regisseur Adam Elliot beherrscht das mit seinen Knetfiguren freilich wunderbar.
Gracies Mutter stirbt schon bei ihrer Geburt. Der Vater, ein ehemaliger Jongleur und Trunkenbold aus Frankreich, bringt es nicht viel weiter. Als Gracie daraufhin von Amtes wegen von ihrem geliebten Zwillingsbruder Gilbert (Stimme: Kodi Smit-McPhee) getrennt wird, landen beide in neuen Lebenshöllen: Ihre Adoptiveltern sind entweder religiöse Eiferer oder notorische Swinger.
«Memoir of a Snail» riskiert viel, um vom Aussenseitertum zu erzählen. Ein Film für Kinder ist das definitiv nicht. Es geht um Messietum, Sex und vielerlei Fetische, während die Hauptfigur eine dauerbetrübte Frau mit Lippenspalte ist, deren Perspektiven schneller zerbröseln, als sie mit Mobbing und Ausgrenzung klarkommen kann.
Befreiung aus dem Schneckenhaus
Da wird dann auch klar, warum sich Gracie über die Jahre nicht nur eine Menge an echten und dekorativen Schnecken zulegte (inklusive schneckenartiger Kopfbedeckung), sondern sich selbst in ein Schneckenhaus zurückgezogen hat. Wie sie sich aus diesem Gefängnis wieder befreit, um ihren grössten Traum zu verwirklichen – das erzählt «Memoir of a Snail» auf hinreissend schräge Art.
Memoir of a Snail
Regie: Adam Elliot
Australien 2024, 94 Minuten
Ab Do, 26.12., im Kino