Wo sind bloss die Menschen hin? Der Hauptfigur im Animationsfilm «Flow» scheint das egal zu sein. Die schwarze Katze betrachtet lieber ihr Spiegelbild im Wasser, jagt im Wald einem Kaninchen nach oder wird von einem Hunderudel verfolgt. Wenn sie müde ist, kehrt sie in ihr Haus zurück, das von riesigen Katzenskulpturen umgeben ist. So weit alles okay aus Büsiperspektive.
Aber dann bricht aus dem Nichts eine Sintflut über dies fast paradiesische Gegend herein. Die Katze flieht vor den Wassermassen und findet Zuflucht in einem angespülten, leicht havarierten Segelboot, in dem sich bereits ein gutmütiges, aber tendenziell schläfriges Capybara (Wasserschwein) eingerichtet hat. Bald schliessen sich ein Sekretär-Vogel, ein sammeleifriger Lemur und ein verspielter Golden Retriever der ungewöhnlichen Tiergemeinschaft an.
Der Animationsfilm «Flow» erscheint bis zu diesem Zeitpunkt wie eine Arche-Noah-Parabel – einfach ohne Noah oder andere biblische Bezüge. Stattdessen erkennen die Tiere, dass sie auf hoher See nur überleben, wenn sie sich allen gegensätzlichen Eigenschaften zum Trotz zusammenraufen.
Die Tiere dürfen Tiere bleiben
Das ist vom lettischen Regisseur Gints Zilbalodis insofern reizvoll umgesetzt, als die Tiere keine genretypische Vermenschlichung erfahren, also nicht sprechen können. Der erst 30-jährige Autodidakt hat für dieses Werk erstmals mit einem Team gearbeitet.
Zuvor hatte Zilbalodis mehrere Kurzfilme und sein Langfilmdebüt «Away» (2019) im Alleingang realisiert, was angesichts der Langwierigkeit und Komplexität bei der Herstellung von Animationsfilmen fast an Hexerei grenzt. Für «Flow» predigt er nun aber nicht nur den Gemeinschaftssinn, er lebt ihn auch.
Dass die Tiere anders als in US-amerikanischen Werken Tiere bleiben dürfen, ermöglicht dem Publikum eine ganz spezielle Naturerfahrung. Vor allem dann, wenn die ungleiche Gemeinschaft durch die Ruinen einer gigantischen Stadt treibt, in der auch ein Wal seine Runden zieht.
Diese immer wieder aufscheinenden Kontraste zwischen monumentaler Grösse und dem Leben in der Enge, zwischen Naturgewalt und architektonischer Vergänglichkeit, zwischen Egoismus und Verantwortungssinn machen den Reiz dieses Films aus.
Das hebt «Flow» auf eine traumhafte Ebene mit eigenen Gesetzen – die jedoch manchmal auch gebrochen werden können. Zum Beispiel wenn sich die Tiere des Schiffsteuers bemächtigen oder wenn sich die Gemeinschaft für die Rettung einer Gruppe von Hunden entscheidet – auch wenn diese das artenspezifische Gleichgewicht an Bord durcheinanderbringen.
Bleibt die Frage: Warum sind die Menschen verschwunden? Und weshalb kam die Flut erst danach? Regisseur Zilbalodis ist klug genug, diese Hintergründe auszusparen. Denn erstens wissen die Tiere auch nicht mehr, und zweitens kann man sich nach dem Film erst recht mit dem Wie und Warum dieses ästhetisch faszinierenden Werks beschäftigen.
Flow
Regie: Gints Zilbalodis
Lettland/F/Belgien 2024, 84 Min.Ab Do, 5.12., im Kino