Als Erstes gilt es, das Festivalbüro zu finden. Gar nicht so einfach. Das nahe beim Bahnhof Baden gelegene Merker-Areal, das bei Fantoche als Festivalzentrum fungiert, erscheint ausgesprochen weitläufig.
Nach einer Weile stellt sich heraus, dass sich das gesuchte Büro in einem gelben Hexenhäuschen neben dem Areal befindet, das zunächst umkreist werden muss, um überhaupt eine Klingel zu finden. Mehr inkognito geht kaum.
Animationsfilm in der Kinohitparade auf Platz 1
Hier, im ersten Stock, ist Fantoche-Direktorin Ivana Kvesic ganz in ihren Laptop vertieft, schliesslich solls mit dem sechstägigen Festival bald losgehen. Einem Festival, das genau zum richtigen Zeitpunkt kommt, wenn man sich die Beliebtheitsskala nach Genres im ersten Kinohalbjahr 2024 in der Schweiz anschaut. Da figuriert der Animationsfilm auf Platz 1 – noch vor Komödien, Dramen oder Actionfilmen. Wie kommt das? Kvesic vermutet hinter diesem Boom das klassische Hollywood-Prinzip: «Was an der Kinokasse funktioniert, wird wiederholt.
Das Publikum mag Animationsfilme, bei denen es weiss, mit welcher Qualität und mit welchem Humor es rechnen kann.» Deshalb seien «Inside Out 2», «Kung Fu Panda 4» oder «Despicable Me 4» quasi Selbstläufer. Bei Jugendlichen sei zudem ein Trend zu Animes, also zu japanischen Trickfilmen, festzustellen. «Diese Erfolge tun dem Genre gut und rücken es vermehrt ins Bewusstsein», sagt Kvesic. Dennoch sucht man solche Blockbuster bei Fantoche vergeblich.
Das seit 1995 existierende Festival hat sich von Anfang an dem anspruchsvollen Autorenfilm verschrieben – was Kassenerfolge freilich nicht ausschliesst: «The Boy and the Heron» des japanischen Altmeisters Hayao Miyazaki konnte zuletzt knapp 90'000 Eintritte in der Schweiz verbuchen. Dass dieser Film jetzt am Festival läuft, hat laut Kvesic unter anderem damit zu tun, dass Fantoche zwar internationales Renommee geniesst, aber kein Premierenfestival ist.
Werkstattgespräch mit Claude Barras
Das gilt auch für Claude Barras’ Eröffnungsfilm «Sauvages». Der Stop-Motion-Film war zuvor schon in Cannes, Annecy und Locarno zu sehen. In Baden kann man nun aber eine einzigartige Werkstattatmosphäre erleben, wenn Regisseur Barras mit Produzent Nicolas Burlet und Lead-Animator Elie Chapuis über die Filmentstehung spricht und die verwendeten Puppen mitbringt. Auffällig am aktuellen Animationsboom ist noch etwas anderes: die ungleiche Geschlechterverteilung.
Bei nahezu allen Langfilmen – und das nicht nur bei Fantoche – hat ein Mann Regie geführt. Selbst beim hochdekorierten Pixar-Studio («Inside Out 2») dauerte es geschlagene 23 Jahre, bis erstmals eine Frau auf dem Regiestuhl Platz nehmen durfte. Warum? «Gute Frage», sagt Kvesic. «Die Herstellung eines Animationsfilms dauert oft mehrere Jahre, und die eher bescheidenen finanziellen Aussichten schrecken wohl viele Frauen ab, gerade wenn sie noch in der Familienplanung sind.»
Anders aufgestellt ist Fantoche: Seit den Anfängen sass mit Ausnahme einer einzigen Ausgabe immer eine Frau in der Festivaldirektion, entweder als Teammitglied oder seit 2009 als alleinige Leiterin. Im Wettbewerb und in den kuratierten Kurzfilmprogrammen machen bei Fantoche die Männer noch einen Anteil von 50 Prozent aus.
Publikumszahlen am Festival rückläufig
Kvesic, die seit 2021 Direktorin ist, war ursprünglich in der Wirtschaft tätig. Da sie in Kroatien aufwuchs, kam sie früh mit Animationsfilmen in Kontakt: «Das jugoslawische Kino war damals stark davon geprägt.» Später führte sie ein Kino, engagierte sich für die Kurzfilmtage Winterthur und die Schweizer Jugendfilmtage in Zürich. Fantoche, das zu Beginn noch auf wackligen Beinen stand, ist inzwischen solide aufgestellt.
Allerdings sind die Zuschauerzahlen rückläufig. Nach dem Rekord von 34 000 Eintritten 2011 wurden letztes Jahr nur noch 20 000 gezählt. Spätfolgen der Coronapandemie? Ja, es habe aber auch mit der Erhebung der Zahlen zu tun, erklärt Kvesic. «Früher wurde einfach die Anzahl verkaufter Tickets angegeben, heute zählen wir, wie viele Zuschauer effektiv im Saal waren.»
Schöne Sommertage sind schlechtes Kinowetter
Der Hauptgrund für die Baisse von 2023 ist jedoch ein anderer: «Wir hatten während der gesamten Festivalwoche Sommerwetter mit Temperaturen um die 30 Grad. Eine Woche zuvor fand zudem das Volksfest Badenfahrt statt. Da waren manche etwas feiermüde. Ein tendenziell nischiges Festival wie das Fantoche bekommt so etwas stark zu spüren.»
2024 findet zwar keine Badenfahrt statt. Aber noch ist es drückend heiss im MerkerAreal, man ist froh um jeden Sonnenschirm. Da hofft man nicht nur im Fantoche-Hexenhäuschen in Baden auf besseres Kinowetter.
Fantoche als Wohlfühloase
«All We Need Is Love» heisst der diesjährige Hauptfokus bei Fantoche. Das an den bekannten Beatles-Song angelehnte Programm soll gemäss Fantoche-Direktorin Ivana Kvesic «in einer von Welt schmerz geprägten Zeit als kleine Wohlfühloase dienen, um mal durchzuatmen – zumal in den letzten beiden Fantoche-Ausgaben politische Kost dominierte».
Zu entdecken ist dieses Jahr zum Beispiel «Whisper of the Heart» (1995), einer der ersten Studio-Ghibli Filme, inszeniert von Yoshifumi Kondo, den Oscarpreisträger Hayao Miyazaki eigentlich zu seinem Nachfolger auf bauen wollte (Kondo starb jedoch 1998).
Es geht bei «All We Need Is Love» aber auch zur Sache, etwa im Kurzfilmprogramm «Erotic, Lust, Fetish» oder im Talk «Let’s Talk about Sex». Der genreübergreifende Programmpunkt «ReMix» findet nicht in Baden statt, sondern in Aarau. Im Aargauer Kunsthaus haben 20 Animatorinnen und Animatoren Bilder aus der Sammlung mit einem speziellen Tool zum Leben erweckt, was man mit einer Augmented-Reality-App auf dem Smartphone verfolgen kann.
Neben den traditionellen Wett bewerbsblöcken rückt dieses Jahr auch das Gastland Österreich in den Fokus («experimentell, bunt, herausfordernd», so Kvesic). Und zum 80. Geburtstag des Schweizer Altmeisters Georges Schwizgebel gibt es ein «CinéConcert».
Fantoche
Di, 3.9.–So, 8.9., Baden AG