Gegen aussen funktionieren sie und erledigen ihren Job, doch im Inneren gärt es: Täglich sitzen sich die Mitarbeitenden eines Medienhauses am Pult gegenüber, lächeln sich auf dem Gang freundlich an oder werfen sich böse Blicke zu, plaudern zusammen in der Kaffeepause oder fahren bei der Redaktionssitzung die Ellbogen aus. Von ihren Sorgen, Sehnsüchten, Freuden oder Ängsten geben sie einander wenig preis. Die Schriftstellerin Angelika Waldis schaut in ihrem neuen Roman «Marktplatz der Heimlichkeiten» genauer hin. In je einem kurzen Kapitel leuchtet sie in Momentaufnahmen in die Seele eines Mitarbeitenden – vom Chefredaktor bis zur Putzkraft, vom Verwaltungsrat bis zur Honorarbuchhalterin. Und dabei kommt manch Unerwartetes zum Vorschein.
Die gute Seele
Die gute Seele des Hauses ist der Hauspöstler Tino, genannt Postino, der immer ein freundliches Lächeln auf den Lippen hat. Doch der einsame Postino leidet an «Weltweh», wie er es selbst bezeichnet. «Aber erstens fragt ihn niemand, und zweitens würde er sich seiner Antwort schämen», konstatiert er. Auch seine Angst, bei der angekündigten Sparrunde den Job zu verlieren, teilt er mit niemandem.
Ganz andere Sorgen plagen die fesche Josette, Assistentin Human Resources. «Auf ihren Körper gibt sie acht wie auf ein teuer bezahltes Rassehündchen», heisst es über sie. Ihr Körper ist ihr Kapital, neuerdings setzt sie ihn bei den mittäglichen Tête-à-Têtes mit ihrem verheirateten Chef ein. Sie gibt sich betont abgebrüht, doch dass sie nur seine «Mittagsfrau» ist, beschäftigt sie mehr, als sie vor sich selbst zugeben würde. Mit psychischen Problemen kämpft Walter, der in der Firma für den Applikationssupport zuständig ist: Er hört Stimmen, dagegen nützt auch eine erhöhte Dosis des Beruhigungsmittels Xanax nichts. Die Zeitungsverträgerin Erna hingegen ist gefangen in ihrem tristen Alltag. Jeden Tag steht sie um halb vier auf – daheim hat sie einen trinkenden, gewalttätigen Mann, den sie durchfüttern muss.
Ein explosives Fest
Postino, Josette, Walter, Erna und viele andere arbeiten zwar im selben Unternehmen, wissen aber fast nichts voneinander. Jede und jeder versucht für sich allein, die Herausforderungen des Lebens zu meistern. Angelika Waldis lässt sie in ihrem fiktiven Medienhaus unbeachtet aneinander vorbeilaufen. In wenigen Augenblicken aber können sich ihre Schicksale kreuzen. Und am Schluss treffen alle bei einem wahrlich explosiven Firmenfest aufeinander – bis dahin haben sich bereits einige kleine und grosse Tragödien ereignet.
Die im zürcherischen Gockhausen lebendende, 75-jährige Autorin zeigt sich einmal mehr als genaue Sprach- und Menschenbeobachterin. Wie bereits in ihren Romanen «Aufräumen» oder «Einer zu viel» überrascht sie mit frischen Metaphern sowie feinem Humor.
Drei Fragen an Angelika Waldis
«Ich wollte nicht den einzelnen Frosch, sondern das Biotop zeigen»
kulturtipp: Haben Sie wie Ihre Protagonistinnen immer ein Notizbuch dabei, um sich Stilblüten zu notieren?
Angelika Waldis: Ja, ich habe immer ein Büchlein dabei. Aber ich schreibe weniger sprachliche Auffälligkeiten auf, sondern Beobachtungen, etwa eine seltsame Situation im Tram. Beim Zeitungslesen sehe ich jedoch die Stilblüten und misslungenen Formulierungen. Zum Glück habe ich einen Mann, der das auch geniesst. Sprache ist etwas vom Lebendigsten, das es gibt. In meinen Büchern versuche ich, neue, noch nicht abgenutzte Metaphern zu finden. Oder ich lasse mich von einer Fremdsprache inspirieren. Im Türkischen zum Beispiel ist ein junger Mann einer mit verrücktem Blut – das finde ich schön.
Ein Medienhaus ist Schauplatz in Ihrem neuen Roman. Als ehemalige Journalistin kennen Sie diesen Ort. Schöpfen Sie aus eigener Erfahrung?
Ich kenne die Verlagsluft von meiner Zeit beim Kindermagazin «Spick», das dem Medienhaus Tamedia angegliedert war. Der Verlag im Roman ist aber eine erfundene Firma. Es hätte ebenso in einer grossen Schule oder in einem Dorf spielen können. Wichtig war mir vor allem, dass ich weg von der Nabelschau eines einzelnen Protagonisten komme. Ich wollte ein ganzes Gefüge zeigen – nicht den einzelnen Frosch, sondern das ganze Biotop. Und ich wollte die unterschiedlichsten Perspektiven einnehmen; vom Zeitungsverträger bis zum Chefredaktor. Ich finde es erstaunlich, dass Menschen, die miteinander arbeiten, nichts voneinander wissen. Als Autorin kann ich in ihre Innenwelten eintauchen.
Ihre Bücher handeln oft vom Ausbruch aus dem tristen Alltag.
Ja, meine Bücher sollen Lust machen, sich etwas zu trauen. Sie sollen zeigen: Das Leben ist etwas wunderbar Schreckliches und etwas schrecklich Wunderbares. Weil sich dunkle Seiten mit Witz besser ertragen lassen, bin ich auch gerne mal böse oder politisch unkorrekt.
Buch
Angelika Waldis
«Marktplatz der Heimlichkeiten»
328 Seiten
(Europa Verlag 2015).