Ein Stück Wiese. Wer lange hinschaut, sieht das Haus, das darauf gebaut werden wird. Zweistöckig, weiss, grosse, schimmernde Fensterflächen, schwarz eingefasst, Flachdach, abgebildet in einem Architekturjournal. In dem Haus, das da steht, wo vorher mal fünf Kühe standen, liegt ein Kind so unterm Bett, dass es nicht gesehen wird von einem bleichen Mann, der zittert vor Wut, weil das Kind sein Leben verschmiert und seine Pläne zerreisst. Also will er es schlagen. Das wird nur der Graupapagei hören und vielleicht der Mann, der die Kieseinfahrt jätet, aber das macht nichts, weil der Somalier ist und zurück muss wegen Sozialbetrugs.
Wenn ich an Frau Kretschmer denke, sehe ich ein Stück Treppenhaus von unten, morgens, undunkel, Farbtöne wie die Stifte rechts in der Caran- d’Ache-Schachtel, braun, oliv, auch harngelb und weiss, aber stumpfweiss, und mittendrin das violette Knäuel, ein nacktes Bein ragt heraus, das Violette ist der Morgenmantel von Frau Kretschmer. Ob sie drunter nackt ist, zeigt das Bild nicht, auch nicht, dass sie tot ist. Und auch nicht, dass Herr Kretschmer, Meinrad, für zwölf Jahre im Zuchthaus sitzen wird. Ach ja, die Treppenhauslampe ist an, Milchglas, quadratisch. Kein Schrei oder so was.
Wer weiss, wann die Plastiktüte hier angeschwemmt wurde, an diese stille Bucht in der Ägäis, wo alles grün oder blau oder türkis ist. Die Tüte fällt auf, sie ist sehr rot, und die Schriftzeichen darauf versteht man hier nicht. Sie hat Naila gehört, Naila im syrischen Zeltlager bei Idlib. Sie hat darin Monat für Monat ihre blutige Unterwäsche zum Waschplatz getragen. Tampons gab es schon lange nicht mehr. Auch kein Pulver gegen die Bauchschmerzen. Als das Lager bombardiert wurde, war die Tüte leer. Ein Wind blies sie auf die Ladefläche eines Pickups. Jetzt bewegt sie sich leicht im schwappenden Saum des Wassers, leuchtendes Rot, Rotstiftrot.
Zwei Gesichter im Zugfenster, abends um zehn, blicken hinaus ins fast Dunkle, alles ist unscharf: die Waldränder, die vorbeirasen, die Häuser mit bereits erhellten Fenstern, ein Kirchturm, noch einer, und eben auch die Gesichter. Es ist unklar, ob sich die Gesichter in der Spiegelung ansehen, heimlich, aus dem Augenwinkel, oder ob sie einfach in die Ferne schauen. Wären sie nicht dem Fenster zugewandt, müssten sie die gegenseitigen Blicke aushalten, da sie einander gegenübersitzen, der Mann und die Frau, und sie müssten gar noch zu reden anfangen, und es gäbe, wer weiss, gar noch ein Paar draus. Eins mit Glück oder eins mit Unglück.
Steht im Bus und versperrt den Gang: leuchtend gelb, sonnengelb, bananengelb, neidgelb, ein Kinderwagen, das Verdeck hochgeklappt. Ob jemand drin liegt, ist nicht zu sehen oder zu hören. Aber anzunehmen ist es schon. Da ist ein Menschenkind drin. Ist drin und drin und drin bis zur Endstation. Als der Kinderwagen hinausgeschoben wird, klemmt etwas. Die neidischen Blicke von zwei Kinderlosen haben sich in den Radspeichen verfangen. Das quietscht.
Gras-, wirklich grasgrün ist die Heuschrecke auf dem weissen Turnschuh, und die Einfassung des Turnschuhs rund um den nackten Knöchel ist rosa. «Schau, wie schön», sagt eine helle Stimme. Schrecke und Schuh bewegen sich nicht. Der Mann am Schuh schüttelt die Schrecke nicht ab, obwohl ihm alles Kriech-und Krabbelzeug kaltschweissige Angst macht. Das war immer so, er kanns nicht anschauen, anfassen schon gar nicht. Wenn er die Schrecke jetzt abschüttelte, würde die helle Stimme bedauernd aufjaulen. Die Stimme ist rosa wie die Einfassung des Turnschuhs. Er möchte diese Stimme immer an seiner Seite haben. Nicht schütteln. Nicht.
Granatapfelrot und Ocker und a few Shades of Grey – so die Farben. Körnig, schleimig, ungeordnet – so die Textur. Morgensonne scheint auf das kleine Stillleben. Das Leben ist still, die Maus ist tot. Sie liegt auf dem Teppich nach einer dramatischen Nacht, nach der Flucht vor zwei Katzen. Das Mäuseherz raste. Das wusste nur sie. Sie wurde gejagt, gefangen, entlassen und wieder gefangen, durch die Luft geworfen, geschupft, gestupst und wieder gefangen, aus Ecken, Winkeln, Nischen geschnappt und wieder gefangen. Das Mäuseherz raste. Das wusste nur sie. Sie wurde zerbissen, zerrissen und angekaut. Und da liegt sie jetzt, farblich recht passend zum Kokosbraun des Teppichs, und jemand sagt Wäk.
Die nackten Beine hängen aus dem Auto, was hinterherkommt, ist noch nicht zu sehen, es sind schwere, bleiche, geschwollene Beine mit Knien, dick wie Kinderköpfe, und weil die Füsse an diesen Beinen fast winzig wirken, ist anzunehmen, dass eine Frau aus dem Auto steigen wird, und weiter nimmt man an, dass sie nicht sprudelmunter und übermütig ist, sondern betrübt bis traurig, und dass sie nicht gern dahin geht, wohin sie geht mit diesen schweren Schwermutbeinen.
Angelika Waldis
Angelika Waldis ist 1940 in Luzern geboren. Sie hat als Lehrerin und Journalistin gearbeitet und 1982 zusammen mit ihrem Mann Otmar Bucher das Jugendmagazin «Spick» gegründet und bis Ende 1999 geleitet. Seit 2000 schreibt sie Romane und Kurzgeschichten. In diesem Jahr ist ihr Familienroman «Lauter nette Menschen» erschienen. Die Schriftstellerin lebt im zürcherischen Gockhausen.