Der flüchtige Gast
Als mein Sohn die Hand öffnete, sah ich etwas Zerzaustes, Verletztes. Irgendwo ein spitzer Schnabel und zwei dunkle Äuglein. «Die Katze hätte ihn gefressen», sagte Matthias. Wir setzten, was an Vogel erinnerte, auf Heu in eine Schuhschachtel. «Er ist nicht verletzt, nur jung», sagte Matthias. Das Etwas rührte sich nicht. Durch sein schütteres Gefieder schimmerte rosa Haut. Als ich wieder ins Zimmer kam, sah ich Matthias, der versuchte, das Tier mit zerschnittenen Bienenmaden zu füttern (die Angelsaison hatte begonnen; in unserem Kühlschank standen wieder die blauen Dosen mit den Löchern im Deckel). Matthias berührte mit der Pinzette den Schnabel, der Vogel sperrte. Schluckte. Ich brachte eine Pipette und Wasser. Nach zwei Tagen sass er auf der Kante der Schuhschachtel. Wenn Matthias in der Schule war, fütterte ich ihn. Ich überwand mich, zerschnitt auch Schnecken, Regenwürmer. Aber er mochte nur Bienenmaden. Bald machte er erste Flugversuche in unserer Bibliothek, dem ehemaligen Piertan in dem alten Bauernhaus. «Er sitzt auf mei-ner Goetheausgabe, Goldschnitt, und scheisst!», sagte mein Mann. «Er hat fliegen gelernt», sagte ich.
Er war schön. Er hatte gelbe Federrauten auf seinen schwarzen Flügeln. Sein Brustgefieder war in Brauntönen meliert. Ich recherchierte im Netz: Er war ein Distelfink.
Matthias liess ihn auf dem Balkon fliegen. Dann sass er auf dem heissen Kupferdach gegenüber und schrie. «Er wird verdursten», sagte ich. Bald war er verschwunden. Ich meinte, seine Stimme zu hören, lief auf die Strasse. Ich hörte, er hockte in der Regenrinne nebenan. Gegen Abend sah ich die Katze auf dem Asphalt geduckt lauern. Und tatsächlich: Er sass unter den Fleissigen Lieschen im Blumenkasten der Nachbarin. Ich trug ihn zu uns hinauf. Wir stellten den alten Vogelkäfig auf den Balkon. (Wir haben auch schon mit einer flügellahmen Alpendohle gelebt.) Auch nachts blieb er draussen, wir deckten ihn zu. Einmal beim Füttern entwischte er.
Aber von nun an kam er zurück. Wenn wir auf den Balkon traten, flog er an, landete auf dem Holzgeländer, schlug mit den Flügeln und schrie. Er lernte, selbständig zu picken, allein zu trinken. Wir waren stolz auf ihn. Die Tage wurden länger und wärmer. Er wohnte jetzt im Holunderbusch. Wenn ich Wäsche aufhängte, flog er auf meine Schulter. Wenn wir auf dem Balkon assen, landete er vor uns, plusterte sich auf und schrie. Wir stellten ihm einen Blumenuntersetzer mit Wasser hin. Er stutzte, hüpfte auf den Rand, sprang hinein. Und dann badete er, tauchte das Köpfchen unter, schüttelte sich spritzend. Wir lachten. Seine Zutraulichkeit war unwahrscheinlich.
Er war selbstbewusst. Nein, er mochte kein Ei, nein, er mochte keine Heidelbeere. Melone vielleicht. Auch Avocado. Aber vor allem: Bienenmaden. Ich rief bei der Vogelwarte Sempach an. «Füttern Sie ihn nicht mehr», sagte eine sonore Männerstimme. Wir hängten Hirserispen auf. Die jungen Spatzen kamen. Er tat beleidigt.
Am Morgen, bevor Matthias nach England in die Ferien auf ein Fussballcamp fuhr, gab er dem Distelfink noch einmal Bienenmaden. Später hängte ich Wäsche auf, aber er kam nicht. «Vogel!», rief ich. Der Distelfink blieb auch am nächsten Tag fort. «Er wird seine Familie gesucht haben», sagte mein Mann. «Wir waren seine Familie», sagte ich.
Am Nachmittag beobachtete ich ein aufgeregt schreiend hin- und herfliegendes Rotkehlchen. Dann sah ich die Katze im Gras. Das Rotkehlchen verteidigte seine Kinder. Und es lehrte sie Gefahr.
Fremde Freunde
Manchmal kommen sie im Rudel die Uferpromenade entlang. Fünf, sechs ihresgleichen. Grosse Hunde in allen Farben der grossstädtischen Prärie: ein schmutziges Weiss, grauer Honig, staubig aufgehelltes Schwarz, Rost. Das Fell eher kurz. Meist sind sie einfarbig, auch wenn ein anthrazitfarbener Rüde dabei ist mit einem falben Flecken um das rechte Auge und einem hellen Bein. Sie traben, als hätten sie ein gemeinsames Projekt. Der Wind des Bosporus fährt ihnen um die angelegten Ohren. Dann wieder liegen sie in der Sonne wie Brezeln, in sich geschlungen auf dem warmen Beton. Man sieht sie auch einzeln, muskulöse Körper in wiegendem Gang. Sie schweifen um die Angler, die in Gruppen nebeneinander an der Kaimauer stehen.
Abends verweilen sie bei ihnen an den kleinen Holzfeuern, wo in ausrangierten Schafskäsebüchsen die Flammen züngeln. Auf niedrigen Schemeln trinken Männer Tee aus zierlichen Tulpengläsern; sie teilen sich Oliven, aufgeschnittene Gurken, Brot. Die Hunde teilen ihre Gesellschaft wie fremde Freunde. Diese Tiere sind wild. Sie organisieren sich selbst. Ihr Zuhause sind die Büsche öffentlicher Parkrabatten, Mauerecken, blinde Winkel im Hintergrund städtischer Anlagen. Sie werden nicht in die Häuser gelassen; strengen Muslimen gelten Hunde als unrein. Aber gerade in den ärmeren Vierteln bauen ihnen die Anwohner kleine Unterschlüpfe aus Holz und Karton. Auf Tellerchen stellen sie ihnen hin, was von einem Familienessen übrig blieb. Und auch die Stadtverwaltung Istanbuls kümmert sich um die freien Tiere. Wer darauf achtet, wird offizielle Versorgungsstationen finden. Eingelassen in einen schmalen Turm steht hier für Hunde und Katzen Trockenfutter bereit und ein Bassin mit frischem Wasser. Viele der wilden Hunde haben eine Markierung am Ohr; das heisst, sie werden tierärztlich betreut. Sie wirken massig. Aber niemand braucht Angst vor ihnen zu haben. Nie habe ich einen dieser Hunde in einer aggressiven Situation erlebt. (Verschiedene Hunde an Leinen schon.)
Manchmal liefert sich ein Rudel eine wilde Jagd mit einem Auto. Während ein Teil der Hunde noch bellend auf Wagenhöhe rennt, hat sich die Spitze schon auf die Fahrbahn geworfen und zwingt den irritierten Fahrer zum Abbremsen. Oder es mag sein, ein Hund hat Lust oder Langeweile und begleitet einen Passanten eine Weile – vielleicht auf einen Brocken hoffend –, bis er ihn wieder alleine weiterziehen lässt. Seltsamerweise sieht man kaum Hundekot. Es scheint, als entwickelten diese Tiere in Freiheit einen natürlichen Sinn für Sauberkeit. Wie seltsam wirken ihnen gegenüber die wenigen Hunde an Leinen. Arme, edle Geschöpfe, die von ihren Besitzern nicht ohne Stolz präsentiert werden. Statussymbole einer westlichen Lebensart.
In Istanbul soll es an die 100 000 freie Hunde geben. Freie Katzen gibt es sehr viel mehr. Sie wirken in den Farben heller. Glänzende Solitäre in Schwarz, Silber, Rot schleichen sie über Marmorbrüstungen, lagern auf den Polstern der Strassencafés, funkeln von hölzernen Fensterbänken. Ich habe in der Hagia Sophia wiederholt eine Katze gesehen, die sich souverän wie ein Seraphim um die Freitagskanzel bewegte.
Einmal, es war ein kalter, windiger Tag, entdeckte ich eine Gruppe von Katzen im Schaufenster einer Boutique unterhalb des Galataturms. Neun Köpfe waren in einem einzigen Fellkörper geborgen, der sich wärmte.
Später, am Abend, sah ich in einer der winkligen Seitengassen Beyoglus unter eine Decke zusammengekauert sieben junge Syrer.
Angelika Overath
Die in Sent GR lebende Autorin wurde 1957 in Karlsruhe geboren. Sie arbeitet als Reporterin, Literaturkritikerin sowie Dozentin und hat zahlreiche Bücher veröffentlicht.
Vorabdruck aus:
«Der Blinde und der Elephant. Geschichten vom Sehen und Begreifen». ©2017 Luchterhand Literaturverlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH.