Von der Stille des Engadins in den schwindelerregenden Trubel Istanbuls: In Angelika Overaths Roman macht der 45-jährige Religionslehrer Cla diese Erfahrung, die sein Leben verändern wird. In der Metropole widmet er sich seinen Studien über den Universalgelehrten Nikolaus von Kues. Dieser reiste im 15. Jahr-hundert von Konstantinopel nach Venedig – mit der Absicht, die römisch-katholische mit der griechisch-orthodoxen Kirche zu versöhnen. Bei seiner Spurensuche trifft Cla auf den Kellner Baran und lernt eine neue Seite von sich kennen: Denn obwohl er in der Bündner Heimat mit der Lehrerin Alva liiert ist, bahnt sich zwischen den Männern eine zarte Liebesgeschichte an. Mit Baran lässt sich Cla nebst philosophischen Gesprächen auf verwirrend-sinnliche Erlebnisse ein: Sie streifen über duftende Märkte, fahren mit der Fähre auf dem Bosporus, und beim Hamam-Ritual oder bei einer Derwisch-Zeremonie lässt er sich die Sinne vernebeln. Und Cla, der sich lange als ein «Windspiel aus Zweifeln» fühlte, findet langsam zu sich selbst …
Overath verknüpft in ihrem Roman östliche und westliche Mystik, das spätmittelalterliche Konstantinopel mit der zerrissenen Stadt der Gegenwart. Nicht immer fügen sich die historischen Passagen ganz nahtlos in die Handlung ein. Mit der Geschichte einer Selbstfindung, die sie mit viel Empathie für ihre Figuren erzählt, und ihrer sinnlich-poetischen Beschreibung der Metropole vermag sie jedoch zu fesseln.
Buch
Angelika Overath
Ein Winter in Istanbul
272 Seiten
(Luchterhand 2018)
4 Fragen an Angelika Overath
«Es gibt keine Religionstoleranz ohne Geschlechtertoleranz»
kulturtipp: Wie Ihr Protagonist Cla verbrachten Sie im Rahmen eines Stipendiums längere Zeit in Istanbul und leben seit vielen Jahren im Engadin. Welchen Eindruck hat die Stadt am Bosporus auf Sie gemacht? Erging es Ihnen wie Cla, der von den vielen Eindrücken, vom Lärm der Metropole anfangs überfordert ist?
Angelika Overath: Wir haben einmal in Thessaloniki gelebt. In den ersten Tagen bin ich mit meinem sechs Monate alten Sohn im Tragetuch die mehrspurige Hauptstrasse, die Via Egnatia, entlanggelaufen. Und da dachte ich: Das ist die Hölle! Aber sehr schnell hat mich die Stadt in ihren Bann gezogen. Das griechische Thessaloniki war ja 500 Jahre unter osmanischer Besatzung. Vieles, was mich in Thessaloniki fasziniert hat, diese Mischung der Kulturen, das Byzantinische, das immer noch durchschlägt, habe ich gesteigert in Istanbul wiedergefunden. Der Wahnsinn des Bosporus! Das Goldene Horn. Eine Stadt auf zwei Kontinenten, zwischen zwei Meeren. Ich liebe Istanbul.
Die gesellschaftspolitischen Umwälzungen seit dem Putschversuch 2016 in Istanbul sind nur am Rande Thema im Roman. Dafür gehen Sie ins Konstantinopel des 15. Jahrhunderts zurück. Warum wollten Sie diese zweite historische Ebene öffnen? Was sagt Sie uns über die heutige Zeit?
Ich wollte die politisch-religiös aufgeladene Gegenwart lesen als eine Kippfigur, ein Vexierbild, ins Mittelalter. Es ging auch damals nicht nur um Religion, sondern um Macht. Aber mich interessieren religiöse Fragen. Mich interessiert der christliche Theologe und Diplomat Nikolaus von Kues. Er hat sich während seiner Konstantinopel-Mission mit dem Koran beschäftigt, über den Religionsfrieden geschrieben. Lange vor Lessing wusste er, wie wichtig der Toleranzgedanke für ein Zusammenleben ist.
Ihre Romane und Ihre Reportagen sind immer sehr sinnlich: Durch die Beschreibung von Farben, Gerüchen, Geräuschen erschliesst sich die Atmosphäre. Ist die Herangehensweise beim Schreiben eines Romans ähnlich wie beim Schreiben einer Reportage?
Auch wenn ich Romane schreibe, bleibe ich Reporterin. Ich beobachte, recherchiere. Natürlich erfinde ich in einem Roman Helden, entwerfe eine Handlung. Aber wer mein Istanbul-Buch liest, taucht in diese Stadt ein. Ich denke, der Text hat eine Erlebnisqualität.
Sie sagten in einem Interview, man solle über das schreiben, was man kennt. Das «reine Erfinden» interessiere Sie weniger. Nebst der Geschichte um den kulturellen Spagat zwischen Istanbul und dem Engadin, zwischen Ost und West, wagen Sie sich im neuen Roman auch an die Selbstfindung eines Mannes. Wie kam es dazu?
Ich bin einmal – eine streng muslimische Freundin hat mir geholfen – mit einem Kopftuch wie eine Türkin durch Istanbul gegangen. Und auf einmal war ich in einer anderen Stadt. Andere Menschen haben mich angesehen. Nur wegen eines Stückchens Stoff. Da spürte ich: Es gibt keine Religionstoleranz ohne Geschlechtertoleranz. Deshalb wollte ich eine Liebesgeschichte zwischen zwei Männern schreiben. Wobei Cla, mein Engadiner, vorher nicht auf den Gedanken gekommen war, dass ihn ein Mann sexuell überhaupt interessieren könnte.
Lesungen
So, 20.1., 10.00 Regionalbibliothek Affoltern a. A. ZH
So, 24.2., 11.00 Aula Pestalozzischulhaus Aarau