Aberr Angelika, wie kannst du dich trauen, rätoromanische Gedichte zu schreiben? Du als Deutsche!» Erica Pedretti hatte recht mit ihrem kollegialen Einwurf. Sie war eine Zugezogene mit böhmisch-mährischen Wurzeln, wie ich. Auch sie lebte im Engadin. Und im Unterschied zu mir hatte sie sehr gut Romanisch gelernt. Also, warum traute ich mich? Und warum waren mir diese Gedichte so wichtig, dass ich während der Suchbewegungen des Schreibens in helle Aufregung geriet? Rätoromanische Wörter zu erkunden, nach ihrer Nachbarschaft zu schauen, auf verwandte Vokabeln zu stossen, das war ein Abenteuer, eine Expedition. Ich durchforschte die Spalten der Wörterbücher, tippte in Online-Lexika und beobachtete, was zum Vorschein kam. Nie war ich auf die Idee gekommen, in meiner Muttersprache Gedichte zu verfassen. Warum jetzt in der Fremdsprache?
Am Anfang manchmal, wenn ich im Postauto sass und den Schulkindern zuhörte, kamen mir die Tränen. Vallader, das Idiom des Unterengadins, ist stark und schön. Und diese bildreiche bäuerliche Sprache gehört in meinem Dorf Sent zum Alltag. Aber weil ich diese Sprache so berührend fand, wollte ich sie nicht verletzen. Ich wollte nicht fehlerhaft sprechen. Am Anfang also war die Scham. Und ich begann, alleine am Schreibtisch, in tastenden Versuchen, eine Annäherung an das Vallader. Genaugenommen hatte ich ein heimliches Rendezvous mit der Sprache. Mein erstes Gedicht lautete: «Poesias / spics / per la vita.» Meine Verse waren mir Spickzettel für das Leben. Für mein neues Dasein in diesem Hochtal. Die Verse wurden zu Probeläufen für Gespräche mit Nachbarinnen. Aber in der fremden Sprache lag meine eigene Stimme. Und damit ein Anfang von Heimat, die mit den Wörtern wuchs.
Alles war neu. Jede Vokabel konnte einen Zugang zu einer frischen Ton- und Gedankenwelt öffnen. So fiel mir auf, dass das Wort für Wort («pled») ähnlich war wie das Wort für Haut («pel») und auch noch mit für den («per il» oder eben «pel») korrespondierte. Und ich kam auf die Zeilen: «Pel mumaint // Pled per pled / crescha la pel / da la lingua. // Eu sgrafl aint, / eu scriv, / eu disegn lasura. // No ans spelain insembel.» Im Deutschen war die Wortnähe von «pled» und «pel» nicht beizubehalten, aber es ergaben sich andere Klangfelder: «Haut, momentan // Wort für Wort / wächst die Haut / der Sprache. // Ich ritze hinein, / ich schreibe, / ich zeichne darauf. / Wir häuten uns zusammen.»
Die ersten Gedichte gingen von einzelnen romanischen Wörtern aus. Dann bemerkte ich, dass ich manchmal auf einen gelebten Augenblick mit einer romanischen Zeile reagierte. Das Vallader kam gleichsam auf mich zu. Ich notierte. Probierte aus, was passierte, wenn ich den Vers ins Deutsche brachte. Beide Sprachen pulsierten anders. So lernte ich im Schreiben von romanischen Gedichten auch meine Muttersprache besser kennen.
Wer in einer Fremdsprache schreibt, ist zwangsläufig sehr nah am Körperlichen der Wörter. Noch bevor von seelischen Empfindungen die Rede sein kann. Die Freude des Lernenden sieht lexikalische Besonderheiten. Im Wort «increschantüm» etwa, das Heimweh bedeutet, steckt das Wort «crescher», wachsen. «As laschar increscher» wäre dann wörtlich: sich hineinwachsen lassen. Für mich schwingt dabei die Vorstellung mit, dass es die Sehnsucht ist, die uns ein wenig grösser werden lässt. Als ich mit einer romanischen Journalistin aus dem Tal über «increschantüm» sprach, sagte sie, dass sie das nicht gesehen hätte. Das gab mir Mut. Und ich schrieb weiter, kurze Zeilen, nah an den Wörtern, experimentell.
Weil ich in Wörterbüchern las, was Muttersprachler, wenn sie nicht unterrichten, eher weniger tun, entdeckte ich alte Schätze. So gibt es ein Synonym für das Wort sterben, es heisst: «ir a chürar las giallinas dal Segner». Also: die Hühner des Herrn hüten gehen. Oder ich fand das Wort «schmögl», Waschlauge, ein Wort, das Engadiner Jugendliche kaum verstehen, weil sie dieses Objekt in ihrem Alltag nicht mehr wahrnehmen. Ich brauchte das Wort für die Zeile: «la savur dal savun schmögl», der Geruch von Seifenlauge. Damit aber gab ich der Waschlauge noch einmal Leben in einem kleinen Gedicht, das vielleicht an vergangene Frauenarbeit erinnert.
Die beste Reiseliteratur wird nicht von Einheimischen geschrieben. Was vertraut ist, fällt nicht mehr auf. Nur der nicht wissende Blick entdeckt im scheinbar Gewöhnlichen das Überraschende. So waren es die nebelgeplagten Engländer, die im Oberengadin die Sonne und den Schnee neu sahen und den Wintersport erfanden.
In zwei Sprachen schreiben, zwischen zwei Sprachen schreiben, die sich reflektieren, ist etwas anderes als Übersetzen. Da ich im Rätoromanischen wie im Deutschen die Autorin bin, habe ich Freiheiten, die eine Übersetzerin in diesem Ausmass nicht hat. Ich darf variieren oder etwas auch ganz anders sagen. Meine Gedichte in zwei Sprachen sind Geschwistergedichte. Manche ähneln sich stark, andere weniger und doch bin ich die Mutter.
Samuel Beckett sagte einmal: «Künstler sein heisst, in einem Masse scheitern, in dem kein anderer zu scheitern wagt.» Vielleicht meinte er damit, dass sich ein Künstler aussetzen muss. Und das braucht Mut. Ich wage es als Deutsche, rätoromanische Gedichte zu schreiben. Weil ich, fremd und mit manchem Wort leise vertraut, mich traue, diese Sprache zu lieben.
Angelika Overath
Angelika Overath ist 1957 im deutschen Karlsruhe geboren und hat in Tübingen Germanistik, Geschichte und Italianistik studiert. Sie arbeitet als Journalistin und Dozentin und hat nebst Bänden mit Reportagen, Essays und Gedichten vier Romane veröffentlicht. Kürzlich ist ihr Lyrikband «Marchà nair cul azur/ Schwarzhandel mit dem Himmel» im Telegramme Verlag erschienen. Die Schriftstellerin lebt im Engadiner Dorf Sent, wo sie mit ihrem Mann die literarische Schreibschule führt. www.schreibschule-sent.ch