Schönes Bild, sagte Arno, und sie hätte sich über sein Lob einfach freuen können, aber sie wurde immer nervös, wenn jemand einen Text von ihr las und sie dabei untätig zusehen musste, und sie fragte sich, warum sie ihm einen Text zu lesen gab, wenn es sie doch beunruhigte. Doch die Frage, warum Arno von einem schönen Bild sprach, wo doch da gar kein Bild, sondern ein Text sein sollte, war ihr im Augenblick wichtiger.
Der Kellner brachte den bestellten Wein.
Schönes Bild, wiederholte Arno, und sie ahnte, dass ihr die Sonne heute nicht gut tun würde, und fragte: Darf ich mal? Sie zog den Laptop zu sich herüber und streifte dabei Arnos Hand mit ihrer. Sie schauten gemeinsam auf den Bildschirm, und sie sah, was er gesehen hatte, und sagte: Mein Mann, meine Tochter und die Freundin meiner Tochter, letzten Frühling auf Chios. Was soll daran schön sein?
Die Stimmung, antwortete er und sah sie prüfend an.
Sie schloss das Bild, das ihren Mann zeigte, dessen Hände über die Mädchenschultern hingen, und öffnete die Datei «Tiere» und fragte sich, woher das Bild gekommen war, es gehörte doch ins Fotoarchiv.
Das Bild und was danach geschah, wäre eine Geschichte für dieses Tussenheft gewesen, dachte sie. Ein Interview lang war es der Journalistin um ihre Verknotungen gegangen und den seltsamen Umstand, dass sie drei Jahre zuvor einen Roman geschrieben hatte, in dem die Hauptperson an Brustkrebs erkrankt war. Kann man das Schicksal herbeischreiben?, hatte die Journalistin gefragt.
Du musst den Text nicht lesen, Arno, zumal es mühsam ist, hier an der Sonne.
Ich möchte ihn aber gern lesen. Er lächelte. Sie lehnte sich zurück.
Mittlerweile waren die Tische um sie herum besetzt. Es war laut geworden.
Arno schwitzte.
Ich fahre sonst nie Fahrrad, sagte er, als ob er ihren Blick bemerkt hätte.
Und warum jetzt?, fragte sie.
Einen sportlichen Eindruck machen, antwortete er.
Nach dem Theater gestern hatte er ihr von sich erzählt. Sie hatte ihn nicht danach gefragt. Arnos Ehe war am Ende. Logisch, dachte sie. Wessen Ehe war das nicht?
Angestrengt starrte er auf den Bildschirm.
Wo bist du?, fragte sie.
Auf der zweiten Seite.
Soll ich die Schrift vergrössern?
Warum?, fragte er fast ungeduldig.
Wer in der Grossstadt Fahrrad fährt, um einen sportlichen Eindruck zu machen, verzichtet auch auf eine Lesebrille, dachte sie und setzte die Sonnenbrille auf. Eine Mädchengruppe am Nebentisch brach plötzlich in Gelächter aus. Musste er so langsam lesen? Musste die Sonne so herunterbrennen? Ja, er war nett, und er versuchte, ihr näher zu kommen. Dass er das Foto angeklickt hatte, war ein Zeichen gewesen. Sie sollte sich endlich mit jener Vergangenheit auseinandersetzen, aus der sie mit einer beschissenen Krankheit weggegangen war, einer Krankheit, die sie noch mehr verknotete, als sie so schon war. Und jetzt plötzlich dieses Bild, das lachende Trio und seine Hände.
Ich sehne mich nach Zärtlichkeit. Das war gestern so glatt über Arnos Lippen gekommen, wie nicht zum ersten Mal, wie ein Dialog zwischen Patient und Therapeutin. Er wusste nichts von ihren Verknotungen. Es war nicht gut, dass er nichts wusste, besser, er wäre vorbereitet, die Zeit, die er bräuchte, wenn er nicht vorbereitet wäre, würde sie nicht aushalten.
Er scrollte schon wieder. Der Text hatte aber nur zwei Seiten.
Die Journalistin vom Tussenmagazin hatte sie nach ihrer Lieblingsfarbe, dem Lieblingsrestaurant und dem peinlichsten Erlebnis gefragt. Die Leserinnen sollten da abgeholt werden, wo sie gerade standen. Was auch immer mit dieser Abholerei gemeint war, die immer öfters bemüht wurde, wenn es darum ging, unsinnige Anliegen zu verkaufen. Ich könnte hier in der Stadt ein Büro für unsinnige Anliegen eröffnen, dachte sie. Ich muss mich sowieso neu erfinden.
Peinlich war, die Hände ihres Gatten auf dem Hintern der Freundin ihrer Tochter zu entdecken. Nicht im Traum, sondern auf Chios.
Arno zupfte an der Haut seines Halses.
Einen höchstmöglichen Lustgewinn wollte sie aus dieser Begegnung herausschlagen, damit die fehlplatzierten Hände in weite Ferne rückten. Dabei war er es gewesen, der an meinem Bett sass, dachte sie. Er, der Vater meiner Tochter, mein Mann und mein bester Freund. Er hielt mir die Schüssel hin, wenn ich erbrach, legte mir einen nassen Waschlappen auf die Stirn, hielt meine Hand, drehte nie durch, sagte immer, wir schaffen das, kaufte ein, putzte, hielt unser Leben zusammen. Kaum ging es mir einigermassen, tauchten in meinem Kopf die fehlplatzierten Hände wieder auf.
Angehörige von Schreibenden haben es nicht immer leicht, sagte sie laut, und Arno drehte den Kopf zu ihr. Seine Wangen waren rot, wahrscheinlich von der Sonne.
Das Buch, das sie vor ihren Verknotungen geschrieben hatte, verkaufte sich sehr gut. In ihrem Roman starb die Frau, sie nahm sich das Leben. Nachdem sie die Diagnose hatte, dachte sie keinen Moment daran, sich das Leben zu nehmen. Ans Sterben schon.
Sie wollte diesen Mann, der da neben ihr im Café sass und mit den Augen am Bildschirm klebte. Es war Monate her, niemals zuvor war es Monate her gewesen, immer war er da gewesen. Dann die starken Hände am falschen Ort, danach die Krankheit, die Verknotungen, die vielleicht schon lange vorher da gewesen waren.
Es würde anders sein mit ihm, aber es war ja auch ein anderer Mann, andere Hände. In Gedanken zog sie Arno aus. Die Vorstellung reizte sie nicht. Sie würde kaum so viel Alkohol vertragen, den es brauchte, um sich in Stimmung zu trinken.
Schreiben kannst du, sagte Arno. Er lehnte sich zurück und schwieg.
Den Text kannst du jetzt bestimmt auswendig, sagte sie, und bestellte noch einen Wein.
Warum kann ich den fehlplatzierten Händen nicht verzeihen?, dachte sie. An denen hängt doch ein ganzer Mensch, der fast sein ganzes Leben mit mir verbracht hat.
Der Kellner brachte den Wein, sie schob das Glas weg.
Arno nahm es, trank und sagte: Du schreibst sehr gut.
Aber?, fragte sie.
Sie versuchte, sich an seine Schulter zu lehnen. Er rückte ab.
Da ist eine Direktheit, die mich frappiert, oder vielleicht wäre verletzt das passendere Wort, sagte er.
Das war nur so ein Versuch, über Tiere zu schreiben, sagte sie.
Arno machte eine schnelle Bewegung, und für einen Moment befürchtete sie, er würde sich auf sie stürzen. Aber er stand nur auf und sagte: Du schreibst über uns, und ich komme da verdammt schlecht weg. Und dann nennst du das auch noch «einen Versuch, über Tiere zu schreiben»?
Sie lehnte sich zurück, hielt das Gesicht in die Sonne und hätte nicht sagen können, in welche Richtung Arno weggegangen war.
Andrea Gerster
Die Ostschweizer Schriftstellerin hat Romane, Erzählungen, Hörspiele und Theatertexte veröffentlicht. Zuletzt ist ihr Werk «Alex und Nelli» über eine gescheiterte Liebesbeziehung erschienen. Andrea Gerster lebt in der Nähe von St. Gallen.