Manchmal träume ich davon, einen Roman zu schreiben, der «Mein Bekannter» heissen würde. Leider komme ich über den Titel nicht hinaus, aber vermutlich kann es nur die Geschichte eines älteren, auf seltsam verquere und verklemmte Weise miteinander verbundenen Paars sein. Vielleicht treffen sich die beiden seit Jahren jeden Sonntag zum Wandern. Bei der anschliessenden rituellen Einkehr werden Freundlichkeiten ausgetauscht – «Was machen die Enkel? Wie geht’s der Tochter?» –, ohne jedoch allzu interessiert nachzufragen, wie es gute Freunde tun würden.
Womöglich handelt es sich aber auch um eine ganz andere Art von Bekanntschaft, eine, bei der man zwar gelegentlich das Bett teilt, aber sich nicht öffentlich dazu bekennen möchte. Eine weitere Variante der Bekanntschaft pflegte meine Grossmutter, die in ihrem langen Witwenleben zwar nie mehr einen offiziellen Freund oder Liebhaber hatte, aber einen Bekannten, den sie während der Kur kennengelernt hatte: einen Witwer aus Süddeutschland, der ein schönes Haus besass und der die Grossmutter, nachdem einige Briefe hin- und hergegangen waren, einlud, ihn zu besuchen. Nach einigen Wochen kehrte sie ohne Erklärung zurück und führte, bis zu ihrem Tod, meinem Lieblingsonkel Hans den Haushalt.
Seit die Geschichte von Grossmutters Bekanntschaft bei Familienfeiern kursierte, fasziniert mich dieser Begriff. Er scheint eine Sonderzone menschlicher Beziehungen zu markieren, einen verschwiemelten Bereich, in dem Menschen zwar etwas miteinander zu schaffen haben, aber noch nicht oder nicht mehr richtig wissen, was das eigentlich ist. Eine Grauzone, seltsam lau und mittelmässig, scheinbar nicht der Rede wert: «Ach nein, das sind nur Bekannte!», sagen wir ja auch, wenn wir mit jemandem zwar bekannt sind, aber ihn oder sie nicht wirklich kennen. Das Wetter ist ein gutes Thema für ein Gespräch unter Bekannten, der nächste Urlaub, die glimpflich überstandene Infektion. Ob man vorher geimpft war oder nicht, wäre genau genommen schon zu intim.
Bekanntschaften können sich jederzeit und überall ergeben: beim Schlange stehen, auf dem Spielplatz, in Hotels, überhaupt in den Ferien, weil wir dann eher bereit und entspannt genug sind, den glücklichen Zufall ein gutes Werk tun zu lassen. Wobei es weniger der Zufall ist, der uns Begegnungen mit anderen schenkt, schreibt der französische Philosoph Charles Pépin in seiner «Kleinen Philosophie der Begegnung», sondern unsere Haltung in diesem Moment: «Der Zufall ist lediglich der Ausgangspunkt und entscheidet nicht über unser Schicksal, sondern wir führen ihn vielmehr herbei.» Es gehe darum, «dass wir den Zufall zu unserem Verbündeten machen und uns darauf vorbereiten können, uns auf das Unvorhergesehene einzulassen. Ob in einem Zug oder in einem Supermarkt, auf einer Abendveranstaltung oder im Büro, auf einer Datingplattform oder in einem öffentlichen Park».
Anders als die wilden, tiefen Gefühle, die der beste Freund wachruft, den wir uns als Kind so sehnlichst wünschen, oder die einzigartige Liebe, von der manche ihr ganzes Leben lang träumen, gehören die Gefühle, die wir mit Bekannten verbinden, zu den emotionalen Kleinformen. Dazu zählen etwa Behagen, die Langeweile oder die schlechte Laune. Fast schon kümmerlich und unscheinbar wirkende innere Bewegungen, verglichen mit dem Glück, das wir alle suchen, der Euphorie oder – um die düstere Seite nicht zu vergessen – der Trauer oder der Verzweiflung. So unscheinbar sie wirken, so unterschätzt sind diese zarten Empfindungen. Denn anders als die grossen Gefühlswallungen sind sie alltagstauglich und besonders in Krisen oft das Einzige, was noch geht.
In seinem Roman «Die einzige Geschichte» erzählt der britische Schriftsteller Julian Barnes von einer grossen, unkonventionellen Liebe, die das weitere Leben der beiden Protagonisten für immer prägen wird. Als Resultat dieser einschneidenden Erfahrung vermeidet Paul nach der Trennung von Susan jede tiefer gehende Beziehung und pflegt stattdessen nur noch Bekanntschaften. «Es war die Ebene von sozialer Interaktion, die er jetzt brauchte: fröhliche gegenseitige Unterstützung unter Ausschluss jeglicher Intimität», schreibt Barnes und trifft damit das Wesen dieser segensreichen Form zwischenmenschlicher Begegnung auf den Punkt.
Eine Bekanntschaft ist das Gegenteil dessen, was man in jungen Jahren sucht, wo nur die allerbeste Freundin, die grösste Liebe und die wildeste Leidenschaft zählen und man auch über ausreichend Kraft und Energie verfügt, um den ständigen Gefühlssturm auszuhalten. Erst viel später, wenn man sich lieber an diese Superlative erinnert, als sie erneut zu suchen, beginnt man, auch die Vorzüge wohltemperierter Gefühlslagen wie die verbindliche Unverbindlichkeit zu schätzen.
«Ach, das sind Freunde von euch?» – «Nein, nur Bekannte», sagt man, um sich ein wenig zu distanzieren. Und wenn von Frau Meiers «Bekanntem» die Rede ist, funktioniert der Begriff wie ein Mäntelchen für Anzügliches oder für Leute, denen Erotik und Sexualität eher peinlich sind. Bekanntschaften pflegen altmodische Menschen wie Loriots Ehepaare Hoppenstedt und Pröhl, die ihr 5-Jahre-Kennenlern- Jubiläum mit dem gemeinsamen Verzehr eines Kosakenzipfels feiern.
Dass Bekanntschaften etwas leicht spiessig Verzopftes anhaftet, dürfte damit zusammenhängen, dass sie im Gegensatz zur wilden Amour fou oder zur tiefen Freundschaft auf mittlerer Betriebstemperatur verlaufen. Genau das Richtige also, um sich den Alltag zu verschönern, ohne dafür sein Innerstes nach aussen kehren zu müssen. Bekanntschaften ergeben sich beiläufig, und ihr Gelingen erfordert Gefühl für Nähe, Distanz und den richtigen Ton: heiter und zugewandt, nicht zu persönlich, dafür pointiert und unterhaltsam, eben die Quintessenz gelungenen Small Talks oder Plauderns, was eine ebenfalls unterschätzte Form der Kommunikation ist.
So unaufgeregt, wie sich eine Bekanntschaft ergibt, ist meist auch ihr Fortgang: respektvoll und ausgeglichen, aber auch anregend und mit viel Freiraum für die Beteiligten. Was nicht schwer ist, denn ein Bekannter kommt einem gar nicht nah genug, um einem so auf die Nerven zu gehen, dass man ihn ändern oder gleich ganz auf den Mond schiessen möchte. Eine nahezu zweckfreie und beglückend konsequenzlose Möglichkeit, wie Menschen einander begegnen und guttun können.
Andrea Gerk
Andrea Gerk wurde 1967 im deutschen Essen geboren und hat Theaterwissenschaften studiert. Seit 1995 ist sie als Autorin und Moderatorin bei verschiedenen ARD-Sendern tätig. Zuletzt ist ihr Buch «Ich bin da mal raus – Ideen gegen den Optimierungswahn » erschienen, illustriert von Moni Port (Kein & Aber). Andrea Gerk lebt mit ihrer Familie in Berlin.