Lange stand er im Schatten berühmter Kollegen wie Robert Doisneau oder Henri Cartier-Bresson. Manche Paris- und New-York-Bilder des Ungarn André Kertész (1894–1985) gehören zwar zur kulturellen Allgemeinbildung, dessen Urheber aber weniger.
«Ich freue mich, Kertész nach Jahrzehnten endlich wieder in der Schweiz zeigen zu können», sagt Urs Stahel, Direktor des Fotomuseums Winterthur. Die umfassende Retrospektive realisierte er in Zusammenarbeit mit der Galerie «Jeu de Paume» in Paris und den Kertész-Spezialisten Michel Frizot und Annie-Laure Wanaverbecq. «Ein derart grosses Projekt ist im Alleingang kaum möglich», sagt Stahel.
André Kertész zählt heute zu den Klassikern der Fotografie. Doch Stahel betont: «Er war ein Pionier, passte in keine Kategorie und blieb lange unverstanden.» Kertész scherte sich kaum um seine historische und geografische Umgebung. Er wolle nicht abbilden, sagte er, sondern Bilder machen.
«Kertész erkundete auf der formalen Ebene alle Möglichkeiten der Fotografie», erläutert Urs Stahel. «Er spielte mit Licht und Schatten (siehe rechts aussen), mit Formen und Verzerrungen. Er war ein Dichter, der seine Fotos so kunstvoll gestaltete wie Haikus, die japanischen Kurzgedichte.»
Der Buchhändlersohn aus Budapest bewegte sich zeitlebens in sprachkünstlerischem Umfeld. Selbst sprachlich unbegabt – auch nach Jahrzehnten in Paris und New York sprach er kaum französisch und englisch –, verschob er seine Poesie auf das Visuelle. «Seine Fotografie ist zauberhaft», sagt Urs Stahel, «und kunstvoll gestaltet.» Tatsächlich «arrangierte» Kertész seine Sujets, was etwa in seinen «Distorsions», seinen Verzerrungen (siehe links oben), augenfällig wird. Zudem bearbeitete er die Negative im Studio und wählte oft unkonventionelle Ausschnitte – wie etwa auf seinem USA-Bild «Verlorene Wolke» (siehe rechts).
Dennoch gilt André Kertész als Pionier der Reportagefotografie. Vor allem in Paris, wohin er 1925 emigriert war, arbeitete er für Zeitschriften, ab 1928 auch für das renommierte Magazin «Vu». «Er arbeitete jenseits jeglicher Banalität», erklärt Urs Stahel, «und hatte den Anspruch, auch eine Strassenszene als gestaltetes Bild darzustellen.» Aus moderner Sicht sei Kertész damit ein «unwahrhaftiger» Reporter, doch: «Arbeiten heutige Reporter wahrhaftiger?»
Mit und ohne Lupe
Der Kulturphilosoph Roland Barthes nannte Kertész einen «nachdenklichen Fotografen», womit er auch auf dessen Introvertiertheit anspielt. Brachte es Kertész in seinen elf Pariser Jahren immerhin zu Anerkennung, sollte er in New York scheitern. «Kertész’ Entscheid, 1936 in die USA zu emigrieren, war wohl ein Fehlentscheid», sagt Urs Stahel. «Mit seiner leisen, verletzlichen Fotografie konnte dort niemand etwas anfangen.» Seine Eingaben an Magazine wie «Life» wurden abgewiesen, und so verdiente er sein Geld als Fotograf der Zeitschrift «House & Garden».
«Er muss fürchterlich gelitten haben», denkt Urs Stahel. «In Briefen glorifizierte er Paris, im Herzen blieb er Ungar.» 1964 erst zeigte das MoMa in New York eine Retrospektive. Kertész war damals 70.
Die Winterthurer Ausstellung zeigt Werke aus allen Schaffensphasen Kertész’. Erstmals auch Frühwerke aus Ungarn, die lediglich als Blattabzüge existieren. «Wir geben deshalb Lupen ab, mit denen sich Details erkunden lassen», sagt Urs Stahel. Die 250 Fotos sind chronologisch gehängt, fokussieren aber auch thematisch.
Urs Stahel: «Zahlreiches Dokumentarmaterial ermöglicht zudem, André Kertész und sein bewegtes Leben zu begreifen. Die Ausstellung ist eine optimale Ergänzung zur Schau ‹Fotoskulptur› im Zürcher Kunsthaus, die auch Kertész-Bilder zeigt.»