kulturtipp: András Schiff, beeinflusste Ihr Heimatland Ungarn Ihre musikalische Entwicklung?
András Schiff: Sehr stark sogar, hätte ich in Frankreich oder Italien studiert, wäre ich vielleicht kein Musiker oder sicher ein ganz anderer geworden. Ungarn ist aufgrund seiner Sprache ein isoliertes Land, die Musik ist ein Ausweg aus dieser Isolation. Mit Musik versuchen wir uns zu behaupten: Folklore, Volkslieder und Volkstanz spielen eine grosse Rolle im ungarischen Leben. Und wir haben eine wunderbare Tradition der musikalischen Ausbildung. Ich schätze mich sehr glücklich, dass ich in Ungarn geboren wurde und dort studiert habe.
Wie war dort die Ausbildung in der Nachkriegszeit?
Wir hatten wegen des Kommunismus sehr viele Nachteile zu ertragen, aber die Musikausbildung war ein Vorteil dieses Systems. Und zwar nicht erst, als ich die berühmte Franz-Liszt-Hochschule besuchte, sondern vor allem in der Grundschule. Schon mit vier oder fünf Jahren erhielt ich viel Musikunterricht, meine Lehrer waren sehr gut und prägten mich. Hinzu kam noch etwas Wichtiges: Das Nachkriegs-Ungarn war eine Wüstenlandschaft. Die älteren Pädagogen wurden nicht pensioniert, weil sonst niemand da gewesen wäre. Mein erster Klavierlehrer war über 70 Jahre alt.
Sie erhielten demnach trotz des vermeintlich modernen kommunistischen Systems viel von einer alten ungarischen Tradition vermittelt?
Nicht nur das. Ich kriegte auch viel von der österreichischen k.u.k.-Tradition mit. Die Kommunisten wollten zwar, dass wir den Blick nach Moskau richten, aber alle schauten nach Wien. Dort liegen die Wurzeln unserer Tradition. Wir haben damals kaum russische Musik gespielt.
Sie haben dann als junger Pianist an einigen bedeutenden Wettbewerben mit Erfolg teilgenommen …
… aber ich habe nie einen ersten Preis gewonnen. Ich wurde beim Moskauer Tschaikowsky-Wettbewerb vierter und bei jenem in Leeds dritter. Ich habe diese Erfahrungen nicht genossen. Sie blieben mir nicht erspart. Es gab aber damals kaum andere Möglichkeiten vorwärtszukommen.
Gibt es denn typische Wettbewerbsspieler?
Ja, sie spielen so, dass es keinen der Jurymitglieder irritiert. Ich war ein Gegenbeispiel. Ich habe immer irritiert, bis heute. Es gibt Leute, die mich heiss und innig lieben, andere können mich nicht ausstehen. Das ist gut so. Zur Interpretation gehören die Werktreue und der Respekt vor der Komposition, aber auch die Zivilcourage zu sagen, dass das Stück auf eine bestimmte Art gespielt werden muss. Ich kann es nicht so spielen, dass es allen gefällt. Ich muss aufrichtig sein.
Wer Ihnen im Konzertsaal zuhört, erkennt Linien zu anderen Grössen: Da sog einer viel auf, liess aber völlig Neues entstehen. Es gibt heute nur wenige solche Musiker. Suchen Sie solche Charakterköpfe, um mit ihnen zu musizieren?
Vielleicht. Heinz Holliger ist ein fantastisches Beispiel dafür, ein Jahrhundertgenie. Ein Musiker, der völlig offen ist und zu den wenigen gehört, die in jedem Stil zu Hause sind. Er kann Bach genauso gut wie Neue Musik spielen. Er ist auch ein bedeutender Komponist. In ihm ist eine brennende Intensität, Musik ist für ihn nicht nur lebenswichtig, sie ist für ihn gar wichtiger als das Leben. Solche musikalische Partner suche ich.
Sie haben vor 12 Jahren das Orchester Cappella Andrea Barca gegründet. Misstrauen Sie mit zunehmendem Alter den dirigierenden Kollegen, finden Sie bei ihnen diese brennende Intensität nicht?
Ich misstraue niemandem, und es gibt hervorragende Dirigenten, auch wenn sie etwas dünner gesät sind als früher. Ich hatte das grosse Glück, Mozarts Klavierkonzerte mit dem Dirigenten Sandór Végh zu erarbeiten. Als er 1997 starb, berührte ich die Stücke jahrelang nicht, es hat mir zu sehr wehgetan. Dann haben sie mir aber gefehlt, und ich gründete das Orchester nach dem Vorbild SandÓr Véghs. Im Orchester sitzen Musiker von seinem Ensemble – oder deren Schüler.
Was dürfen wir von Ihnen in Zukunft erwarten?
Ich bleibe in einem Repertoire, in dem ich mich sicher fühle – es soll von Bach über Haydn bis Brahms reichen. Wenn man Werke wie «Die Schöpfung» von Haydn oder Bachs h-Moll-Messe dirigiert, erweitert sich der pianistische Horizont.
Zurück zu Ungarn. Sie haben das Land verlassen und kritisieren dessen nationalistische Führung. Fühlen Sie sich Ihrer Heimat noch sehr verbunden?
Natürlich! Die Leute beschimpfen mich zwar als Landesverräter, da ich die Regierung beziehungsweise deren Führer Viktor Orban kritisiert habe. Ich kann mich damit nun mal nicht identifizieren. Aber mit dem Land, seiner Sprache und seiner Kultur sehr wohl: Spiele ich die Musik Bartoks, bin ich ganz zu Hause in der ungarischen Kultur. Das ist eine Mission.
András Schiff
András Schiff wurde 1953 in Budapest geboren. 1979 verliess er Ungarn und machte Weltkarriere. Mit Heinz Holliger gründete er 1995 die «Ittinger Pfingstkonzerte» in der Kartause Ittingen TG, 1999 das Kammerorchester Cappella Andrea Barca, welches er dirigiert. Schiff ist mit der Violinistin Yuuko Shiokawa verheiratet und lebt in Florenz.
[CD]
Robert Schumann
Geistervariationen (ECM 2011).
[/CD]
[CD]
Johann Sebastian Bach
Sechs Partiten
BWV 825–830 (ECM 2007).
[/CD]
[CD]
W.A. Mozart
Sinfonie Nr. 35/Klavierkonzert Nr. 20
Cappella Andrea Barca,
Dirigent: András Schiff
(Medici Arts 2008).
[/CD]