Kulturtipp: Sie spielen erstaunlich oft in der Schweiz: in Gstaad, in Lugano, in Muri, jetzt in Aarau und Baden. Woher kommt diese Liebe zur Schweiz?
Anastasia Kobekina: Ich liebe meinen Beruf aus vielen Gründen, einer davon ist, dass ich die Möglichkeit habe, zu reisen und das Publikum in der ganzen Welt zu treffen. Ich mag die Schweiz, habe hier viele schöne Erinnerungen, die mit Menschen, Festivals und Konzerten verbunden sind. Und was für eine unfassbare Natur ihr habt! Ich bin jedem Veranstalter für die Einladungen dankbar, denn diese Liebe beruht auf Gegenseitigkeit, und ich freue mich, immer wiederzukommen.
Sie spielen erstmals mit dem Argovia Philharmonic und Rune Bergmann – noch dazu in zwei Sälen, die Sie nicht kennen. Ein Risiko, oder ist das mittlerweile Routine für Sie?
Ich versuche, aus den Konzerten keine Routine zu machen. Sobald es zu einem reinen Geschäft wird, fehlen einige wesentliche Teile der Liveperformance. Ich freue mich auf die Auftritte mit dem Argovia Philharmonic und Rune Bergmann, da jedes Konzert seine eigene Geschichte erzählt. Ich hoffe, dass diese Geschichten in zwei verschiedenen Sälen besondere Momente sein werden.
Wie schnell merken Sie, ob es mit einem Orchester geigt? Worauf kommt es an?
Ich lasse mich immer überraschen. Kein Konzert gleicht dem anderen, und das ist vielleicht das Schönste: nie den selben Weg zu gehen, nie zu versuchen, es so zu reproduzieren, wie es beim letzten Konzert war, sondern mutig und gemeinsam diese Musik wie zum ersten Mal zu entdecken und mit dem Publikum zu teilen.
Vor einem Jahr sorgten Sie wegen eines Schweizer Veranstalters weltweit für Schlagzeilen: Die Kartause Ittingen sagte ein Konzert von Ihnen ab, da Sie Russin sind: «um sie zu schützen», hiess es. Wie betrachten Sie diese Absage mit der Distanz eines Jahres? Hat Ihnen der Vorfall geschadet?
Die Welt war und ist in einer schwierigen Zeit. Damals kam es dank den Artikeln von Ihnen, Herr Berzins, ins Rampenlicht. Ich muss sagen, dass es bis heute die einzige Absage für mich geblieben ist. Zudem hat die Kartause Ittingen Jean-Sélim Abdelmoula und mich für ein Konzert am 5. November wieder eingeladen.
Sie distanzierten sich vom Krieg. Andere Musikerinnen wie etwa Anna Netrebko taten das nicht so klar und dürfen in der Folge noch heute nicht überall auftreten: Finden Sie es richtig, dass Netrebko, Teodor Currentzis oder Denis Matsuev vielerorts nicht auftreten dürfen?
Ich mag es nicht, die anderen Menschen zu beurteilen. In dieser Situation habe ich meine Entscheidung getroffen und meine Position vertreten, aber damit habe ich dennoch kein Recht, über das Verhalten von Inhabern dieses oder eines anderen Passes zu diskutieren.
Sie spielen nun mit dem Argovia Philharmonic drei Mal Schostakowitschs Cellokonzert. Warum dieses 1959 komponierte Werk?
Weil es ein unglaubliches Konzert von einem genialen Komponisten ist und weil die Argovia Philharmoniker und Rune Bergmann es für das Konzertprogramm gewünscht haben.
Es gilt «als musikalische Abrechnung mit Stalin». Finden oder lesen Sie das auch aus der Partitur? Könnten Sie das etwas ausführen?
Musik spiegelt oft die Zeit, und Schostakowitsch war wie kein anderer in der Lage, dies in seiner Musik auszudrücken: ein Schrei, ein persönlicher Monolog eines Individuums, der die Gefühle und Gedanken so vieler «einfacher Leute» durch Musik zum Klingen brachte. Und so steht für mich in diesem Konzert die Stimme des Cellos für ein Individuum, das seinen eigenen Weg geht und mit einem herzlosen System kämpft.
Das verstehe ich, aber etwas verstehe ich nicht: Warum um Himmels Willen zitiert Schostakowitsch «Suliko», das Lieblingslied Josef Stalins?
Die authentische Antwort auf das Warum werden wir wohl nie erhalten, aber man könnte sich vorstellen, dass die sarkastische Art und Weise, in der dieses Lied im Finale des vierten Satzes erklingt, als Satire verstanden wird.
Lassen wir die Sowjetunion und Putin. Ganz naiv gefragt: Wie und dank wem schafften Sie es, eine grosse Cellistin zu werden?
Ich bin meinen Eltern, meinen Mentoren und all den Menschen, die mich unterstützen und die ich auf dieser Reise kennengelernt habe, sehr dankbar. Ich liebe es, Musik zu machen und sie mit anderen Menschen zu teilen. Ich versuche, in meinem Alltag und auf der Bühne ehrlich zu sein. Und was den von Ihnen erwähnten Titel «grosse Cellistin» angeht, ist es noch zu früh, um solche Schlüsse zu ziehen. Nur das Publikum und die Zeit können einige Antworten geben.
Wohin soll Ihr künstlerischer Weg gehen?
Dorthin, wo ich meine musikalische Sprache bereichern kann, wo ich Menschen durch Musik erreichen kann.
Wie bleiben Sie glücklich?
Zufriedenheit ist eine Form des Glücks, und ich bin dankbar und schätze alles, was ich habe.
Welche Rolle spielt Ihre Heimat Russland für Sie in Zukunft?
Man kann sich sein Heimatland nicht aussuchen. Ich bin gegen die Politik des jetzigen Regimes, aber Russland bleibt mein Geburtsland. Ich kann nur auf eine bessere Zukunft ohne Krieg hoffen, in der Frieden und Menschenleben an erster Stelle sein werden.
Konzerte
Anastasia Kobekina mit Argovia Philharmonic und Dirigent Rune Bergmann
Do, 11.5., 19.30 / So, 14.5., 17.00 Alte Reithalle Aarau
Fr, 12.5., 19.30 Kurtheater Baden
Album
Anastasia Kobekina - Ellipses, Cello und Barockcello
(Mirare 2022)
Die aufstrebende Cellistin
Anastasia Kobekina wurde 1994 im russischen Jekaterinburg geboren, 2006 wurde die Cellistin am Moskauer Konservatorium aufgenommen. Sie gewann Wettbewerbe und Förderprogramme. Beim Tschaikowsky-Wettbewerb 2015 in Moskau kam sie ins Halbfinale. Bald konzertierte sie in Ost und West. 2022 geriet sie in die Schlagzeilen, da sie als Russin von der Kartause Ittingen ausgeladen wurde.