Ich habe gelernt, mir Gesichter nicht so genau anzusehen. Nur so viel wie notwendig ist, um sie der richtigen Person zuzuordnen. Manche nennen das Kurzsichtigkeit, und ich lasse sie das glauben. Bei ihr, die ich am öftesten sehe, weiss ich zum Beispiel, dass ich nicht genau wissen möchte, wie tief ihre Sorgenfalte geworden ist. Ich halte solche Dinge nicht aus, ich halte nicht viel aus. (Aber sie nennt mich nicht schwach, sie nennt mich hart, und ich verstehe sie. Ich sperrte mich zu oft in meine eigenen vier Wände ein, die hart waren.)
Sie hingegen will alles sehen, und sie sorgt sich um alles. Sie sorgt für ihren Ehemann und ihre Mutter, die es über die Jahre verlernt haben, für sich selbst zu sorgen, und auch für ihren Sohn, der nie etwas gelernt hat. Sie sollte es lassen, aber das kommt nicht infrage. Das Leben ist kein Feiertag, hat sie gelernt, wahrscheinlich von ihrer Mutter, die früh anfing, ihr Sicherheitsnetz zu weben. Das weiss sie, und das nimmt sie auf sich, ohne darüber nachzudenken, wie es anders sein könnte. Nur Feiertage kommen ihr ungelegen. Da «Nur Feiertage kommen ihr ungelegen.» Da sollte etwas anders sein, es muss schöner sein als gewöhnlich, aber das ist schwierig, sie ist nur an dieses Leben gewöhnt. Sie hat sowieso schon oft genug das Gefühl, sie kann nicht mehr, und jetzt muss sie noch mehr: ein feierliches Mahl herzaubern und Geschenke besorgen.
Zu bestimmten Feiertagen muss man nämlich schenken, um zu zeigen, dass man lieb hat und auch an andere denken kann. Für ihre Mutter kauft sie eine Orchidee. Das ist eine schöne Pflanze, bunt und exotisch, selten und teuer, und man kriegt sie ums Eck günstig bei Billa. Die Leichtigkeit des Erwerbs macht sie besorgt. «Ist das nicht ein schönes Geschenk für deine Grossmutter?», fragt sie den Sohn. «Voll schön», erwidert der Sohn, dem Pflanzen und Geschenke egal sind, solange er eines bekommt, das er bei der Mutter rechtzeitig vorbestellt hat.
Zumindest macht er es dadurch leichter für sie. Sie muss nur die Kreditkartennummer eintippen, wobei er auch bereit wäre, das selbst zu tun. Seine Mutter muss sich also allein bemühen, sich an der Pflanze zu erfreuen, dem Geschenk einen Wert zu verleihen. Sie starrt die Blume an, nimmt jeden Fleck wahr. Wie gelingen der Natur solche Farben? Diese Blume wurde an einem Feiertag erschaffen, inmitten von brauner Erde oder grauen Bergen oder weisser Wüste, denkt sich die Mutter und streichelt die Blume sanft, auch die gelbe Mitte. Ihre Finger werden von den Pollen nikotingelb. Das lässt sich nicht so leicht abwaschen. Selten, aber manchmal doch, färbt die Schönheit auch ab, was eher unangenehm ist.
Ich möchte ihre braunen Haare streicheln, auch den weissen Ansatz, aber ich möchte natürlich nicht wirklich. «Deine Mutter wird sich so freuen», sagt ihr Mann und legt seine Hand auf ihre Schulter. Ihre Mutter wird sich natürlich nicht freuen, aber die Tochter freut sich über diesen Satz. Sie ist mit Kleinem zufrieden, denn für etwas Grösseres gibt es keinen Platz. Gegenstände, andererseits, sehe ich umso schärfer. Mein Blick verweilt erbarmungslos auf ihnen und senkt sich nicht wie zuvor, beschämt angesichts ihrer Hässlichkeit.
Dinge, die man «meine» nannte, warf ich weg. Auch das Porzellanpferdchen, das ich von diesem einen Mann bekam, ist weg. Es war eine Zumutung. Es wird meiner Liebe viel zu viel zugemutet, ich glaube, man merkt gleich, dass sie hart im Nehmen ist. Sie nimmt und nimmt und eignet sich Dinge an, und plötzlich steht ein Porzellanpferd für etwas, wofür es nicht bestimmt war. Und obwohl es möglich ist, denn Harfenspieler wird man durch Harfe spielen, ist es falsch.
Dinge, die mir nicht gehören, rühre ich nicht an, aber sie dürfen mich auch nicht berühren. Diesem anderen Mann, der mir nichts schenkt und der selbst nur Pferde und Dinge aus Plastik hat, die «seinem Vater gehört haben» und «nicht ersetzt werden sollen», sage ich, es ist billig erworbenes Zeug, und wo zuvor Nostalgie war, sehe ich jetzt Faulheit und wo Not war Geiz. Alles fault, das ist die Natur. Faulende Lilien stinken angeblich noch schlimmer als faulendes Unkraut, das ist mein Trost, so äussert sich mein Optimismus.
Der kleine Mensch ist im Allgemeinen optimistisch gestimmt, merke ich. Wir kaufen alle Lottoscheine, ich und andere kleine Menschen, obwohl die Wahrscheinlichkeit, dass uns ein Ziegel auf den Kopf fällt, statistisch gesehen grösser ist. Aber keiner fürchtet sich vorm Ziegel, und wir hoffen alle auf den Jackpot. «Einer muss ja gewinnen, und warum nicht ich?», fragt man sich. Im Ziegelfall würde man hingegen fragen: «Warum ich?» Wir fragen gerne warum, obwohl die Fragen nach dem Warum meist unbeantwortet bleiben. Mein Blick behält lange die Schärfe für Gegenstände und die Milde für Lebewesen, bis er eines Tages auf ihren leeren Schuh stösst. Der Schuh hat seitlich eine Wölbung, wo der schiefe Knochen ihres grossen Zehs liegt.
Auch der kleine Zeh hat eine Wölbung gemacht. Die Sohle ist uneben, der grosse Zeh scheint das ganze Gewicht zu tragen. Und er ist so klein, er ist der kleinste Schuh im Haus, nachdem ich meine Babyschuhe entsorgt hatte. Ich wende mich davon ab, suche den Fuss.
«Ich hab dich lieb», sage ich dem Fuss. Es ist der gleiche Satz, den ich den Männern, die ich nicht geliebt habe, gesagt habe. Der Fuss rührt sich kaum. Und dann will ich. Zum ersten Mal seit Langem fühle ich mich bereit, ihr direkt ins Gesicht zu schauen, bis auf den Grund ihrer Sorgenfalte will ich sehen, ich hebe meinen Kopf, obwohl es schwer ist, obwohl er leicht ist. Aber sie wendet sich von mir ab, hebt den Löffel der Grossmutter zu ihrem offenen Mund, füttert sie weiter, und sagt schliesslich leise dem Erdapfelpüree: «Ich dich.»
Zur Person
1980 in Slowenien geboren, hat Ana Marwan Vergleichende Literaturwissenschaft in Ljubljana und Romanistik in Wien studiert. Marwan lebt als freie Autorin in Wien, schreibt Kurzgeschichten, Romane und Gedichte auf Deutsch und Slowenisch. Seit 2023 ist sie Mitherausgeberin und Chefredaktorin der Literaturzeitschrift «Literatur und Kritik». 2023 ist ihr Roman «Verpuppt» erschienen (Verlag Otto Müller). Das Original «Zabubljena» wurde 2021 in Slowenien als bestes Buch des Jahres ausgezeichnet.