Es gurrt und gluckert, knackst und knistert, zwitschert und pfeift, kreischt und krächzt, wenn Sofia Jernberg zu einem ihrer Solo-Höhenflüge abhebt. Manchmal klingt es, als würde sie gleichzeitig mit zwei verschiedenen Stimmen singen, und man wundert sich fast, dass sie zwischendurch tatsächlich einfach schlicht mal Luft holen muss.
Sie entlockt ihrer Stimme die unglaublichsten Klänge und Geräusche, und das ohne jegliche Hilfsmittel. Ganze Vogelschwärme kann sie so zum Leben erwecken. Aber das trifft ihre Absichten nicht ganz: Sie wolle nicht irgendetwas nachahmen, sagt sie dazu, sondern aus sich heraus die Grenzen ihrer Stimme immer weiter austesten: «Meine Inspiration kommt nicht von Vögeln oder von der Natur, sondern aus der Musik und von Musikern, denen ich gern zuhören mag», sagt sie im Gespräch mit dem kulturtipp.
Die eigenen Möglichkeiten ausschöpfen
Wo liegen die Grenzen der menschlichen Stimme? Ganz weit draussen, würde Sofia Jernberg sagen. Sie eine Sängerin zu nennen, ist eine schlichte Untertreibung. Weil es aber kaum ein Wort für das gibt, was die in Äthiopien geborene Schwedin mit ihrer Stimme und ihrem Körper macht, muss man dennoch dabei bleiben. «Experimentelle Sängerin» gefällt der 40-Jährigen als Etikett am besten, weniger mag sie Ausdrücke wie Stimmakrobatin oder Virtuosin, weil es nicht das ist, wonach sie strebt.
Es geht ihr nie um Zirkus, sondern immer um Musik. Und um Interaktion, denn eigentlich steht sie gar nicht so gern mutterseelenallein auf der Bühne. Diese Solo-Improvisationen sind aber inzwischen zu einem Markenzeichen von Sofia Jernberg geworden, und so wird sie auch am Luzerner Forward-Festival eine Kostprobe davon geben.
Sonst aber steht nicht der weite Laufsteg im Vordergrund, sondern die Auseinandersetzung mit anderen Musikern, mit Komponisten und Künstlerinnen aller Sparten. Das ist das eigentliche Terrain dieser Musikerin, die in Jazz und Komposition ausgebildet wurde und sich nie gescheut hat, das nur Menschenmöglichste aus ihrer Stimme herauszuholen und sich darin auszuprobieren, was andere kreative Köpfe an Klang- und Musikideen entwickelt haben: «Ich bin sehr aufgeschlossen und bereit, hart zu arbeiten und meine Möglichkeiten maximal auszuschöpfen», sagt sie dazu pragmatisch.
Sofia Jernberg wurde 1983 in Äthiopien geboren und im Alter von vier Jahren von einer schwedischen Diplomatin adoptiert. Danach lebte sie in Vietnam und kam mit zehn nach Schweden. Es wundert niemanden, dass derart unterschiedliche Lebensstationen auch die Musik von Sofia Jernberg prägten: «Es war für mich normal, dass man anders aussah und die Leute aus verschiedenen Teilen der Welt stammten.» In Hanoi hörte sie vietnamesische Volksmusik ebenso wie äthiopische, die ihre Mutter gern hörte.
Als Teenager in Schweden sang sie im Chor, aber so richtig anfreunden mit der europäischen Klassik mochte sie sich nicht.Sie hörte Popmusik, stöberte in Plattenläden und suchte stetig nach neuen Stilen und Klängen. Das ist bis heute so geblieben: «Ich muss nicht um jeden Preis ganz neue Dinge machen, es muss nicht etwas noch nie Gehörtes sein. Aber ich mag es, an meine Grenzen zu gehen und nicht an derselben Stelle stecken zu bleiben.»
Kreative Jazzsängerinnen oder Performer wie Sidsel Endresen, Phil Minton oder Diamanda Galás inspirierten die junge Musikerin und ermunterten sie, sich ihre eigenen Wege für ihre Stimme und ihre Musik zu suchen. Mit der Jazzpianistin Cecilia Persson leitete sie das Avantgarde-Septett Paavo.
Ein magischer Trip mit Fausto Romitelli
Einem grösseren Publikum bekannt wurde sie bei Auftritten mit dem Free-Jazz-Saxofonisten Mats Gustafsson oder dem österreichischen Improvisationsmusiker Christof Kurzmann. Aber auch die Tür zur Klassik hat sie nie zugeschlagen, wenn es auch undenkbar für sie wäre, in einer Verdi- oder Mozart-Rolle auf der Bühne zu stehen. Aber eine textgetreue Interpretation von Arnold Schönbergs Melodram «Pierrot lunaire» darf es gerne sein oder Ausflüge in die notierte Neue Musik mit dem schwedischen Avantgarde-Ensemble Norrbotten Neo.
Mit solchen Fähigkeiten präsentiert sich Sofia Jernberg auch zur Eröffnung des Lucerne Forward-Festivals, wenn sie die Sopranpartie in der Grenzen sprengenden Arbeit «An Index of Metals» des Italieners Fausto Romitelli übernimmt. Diese Musik will das Publikum nicht sachte bei der Hand nehmen, sondern es mit allen Mitteln vereinnahmen, überfallen, überfordern. Romitelli spricht darin alle Sinne an und zielt sogar darüber hinaus ins Übersinnliche. Das soll kein Konzert mehr sein, sondern eine Seance, ein magischer Trip, eine halluzinatorische Reise.
Im KKL hat sie die Bühne ganz für sich allein
Nichts weniger als eine Erneuerung des Genres Oper schwebte dem Italiener vor, der kurz vor seinem Tod 2004 dieses einzigartige Geflecht aus Klang, Bild, Text und Rhythmus vollenden konnte. In Luzern hat man sich mit dem Verkehrshaus und seiner grössten Leinwand der Schweiz ein würdiges Setting für dieses monumentale Gesamtkunstwerk ausgesucht.
Zuvor leiht Jernberg dort ihre Stimme dem schwarzen Minimal-Music-Zauberer Julius Eastman in «Prelude to the Holy Presence of Joan d’Arc» für Sopran solo. Und im Konzert vom Sonntag erhält sie die Bühne ganz für sich allein für eine jener Stimmimprovisationen, für die sie berühmt geworden ist.
Sofia Jernberg
Video/Oper: Maïda/Eastman/Romitelli
Fr, 17.11., 19.30 Filmtheater
Verkehrshaus Schweiz Luzern
Konzert: Uzor/Jernberg/Lim
So, 19.11., 18.30 KKL Luzern
Film und Ton
Seit 20 Jahren besteht die Festival Academy beim Lucerne Festival. Sie hat zum Ziel, junge Musikerinnen und Musiker an die Klangsprachen und Spieltechniken der neuen und ganz neuen Musik heranzuführen. Aus diesem Netzwerk entsteht nun zum dritten Mal ein eigenes Festival, das unter dem Etikett «Forward» segelt und in sechs Veranstaltungen sehr unterschiedliche Spielarten der Avantgarde versammelt.
Auf dem Programm steht etwa das Filmtheater «An Index of Metals» von Fausto Romitelli über zwei Bild-Ton-Collagen von Rebecca Saunders und Marcus Schmickler zu den Bildern des Avantgarde-Malers Gerhard Richter. Oder der nigerianisch-sankt-gallische Komponist Charles Uzor, der sich mit der Polizeigewalt gegen George Floyd und mit der Black-Lives-Matter-Bewegung beschäftigt.
Platz hat auch ein naturmystischer Dialog zwischen einer Geige und einem Luzerner Bach, den die Australierin Liza Lim mit Ton und Film ins KKL bringt. Ein Late-Night-Konzert mit Musik von Julius Eastman, ein Film über den Maler Gerhard Richter und ein verspieltes Familienkonzert runden das Programm ab.
Forward-Festival
Fr, 17.11.–So, 19.11.
www.lucernefestival.ch