«Gehts noch langsamer?», ruft es aus der Warteschlange der Kasse, mit Betonung auf «noch». Ja, denke ich, es würde durchaus noch langsamer gehen, mit Betonung auf «durchaus». Ich ärgere mich passiv über die unnötige Negativität auf den billigen Plätzen hinter mir. Die Kassierin ihrerseits entscheidet sich, den klagenden Kunden aktiv anzugifteln. Und wer akkurat gifteln will, muss innehalten, muss die Arbeit kurz stehen lassen. Ich ertappe mich bei der Frage, ob sie das darf. Kein zaghaftes Dürfen wie das der pseudofeministischen Diätmarke, die mit ihren fettarmen Produkten die «Fremdbestimmung durch männliche oder gesellschaftliche Rollenerwartung» für «endgültig passé» erklärt. Eher ein forderndes Dürfen wie das vom Arbeitsmarkt: Natürlich dürfen Sie unfreundlich sein zur Kundschaft, Frau Meyer, im Gegenzug müssen Sie auch nicht mehr zur Arbeit erscheinen.
Mit der Gelassenheit einer Frau, die um die Höhe ihres zukünftigen Pensionsalters und um die Wichtigkeit mentaler Gesundheit weiss, wendet sich die Kassierin wieder meinem Knollensellerie zu. Es wäre auch ein erbärmliches Leben, würde sie sich über jede zerknitterte Etikette und über jeden ebenso zerknitterten Kunden echauffieren. Den Nagel des rechten Zeigefingers schiebt sie unter das Problempreisschild, löst es zur Hälfte vom Plastik der Verpackung und fährt damit über den Scanner. Die Kasse reagiert weiterhin nicht, besagter Kunde geht über in Aufregungsstufe 2: Er verdreht die Augen und übt sich im Mimen eines Erdmännchens. Sein Kopf schnellt hin und her, der Hals ist aufs Äusserste gestreckt. «Passen Sie nur auf, dass Ihnen der Kopf nicht von den Schultern wegdetoniert. Wer weiss, ob Sie ihn nicht doch mal brauchen», denke ich, mit Betonung auf «doch».
Ich schiele zu den Selbstkassier*innen. Wenn ich mir anschaue, wie langsam Ungeschulte beim Self-Scanning und Self-Checkout vorgehen, dann glaube ich an das Fortbestehen des Kassierberufs. Zumindest so lange, bis nicht jedes Gemüse und Obst einzeln in eckige Schachteln verpackt und mit Barcode versehen wird. Oder bis die Technik der Gesichtserkennung zur Obst- und Gemüseerkennung umfunktioniert wird. Es finden sich sicherlich auch bei Avocado und Mango Marker zur definitiven Unterscheidung. Nur die Biosachen müsste man wohl auch dann noch extra erfassen, weil die Erkennung nicht ganz so zuverlässig funktionieren würde. Da verlässt man sich lieber auf die Ehrlichkeit der Kund*innen. Wie damals in Zürich Wollishofen, als 1965 die ersten Selbsttipp-Kassen getestet wurden. Die Kundschaft tippte die einzelnen Beträge selbst ein und erhielt einen Coupon mit der Summe. An der Hauptkasse wurde der Gesamtbetrag dann von einer Kassierin (damals noch ohne Maskulinum) eingezogen.
Das System hat sich nicht bewährt. Ich denke, weil … nun ja … weil wir Menschen sind. Und Menschen schummeln, wenn man ihnen Gelegenheit dazu gibt. Doch immer mehr Menschen bezahlen bargeldlos, und so muss der Mensch hinter der Kasse eigentlich nur noch «OK» drücken, damit das Kartenlesegerät aktiviert wird. Dass man die Beträge davor selbst registrieren kann, ist ja im Grunde keine Dienstleistung, sondern eine Verlagerung der Arbeit vom Personal zu den Kund*innen. Das haben die Wollishofer*innen damals wohl schon kapiert und aufgemuckt: Warum sollen wir deren Arbeit erleichtern? Mir scheint, manche formen heutzutage aus dieser Frage ihr ganz eigenes Credo und versuchen, Kassier*innen die Arbeit so schwer und den Tag so mies wie nur irgend möglich zu machen.
Was kann denn die Frau an der Kasse dafür, dass das Lesegerät Mühe hat? Was kann das Lesegerät dafür, dass die Etikette zerknittert ist? Was kann die Etikette dafür, dass der Knollensellerie rund ist? Was kann der Knollensellerie dafür, dass ich ihn möchte? Moment, will das Erdmännchen mir etwa den Knollensellerie verbieten? Gehts noch asozialer? Mit Betonung auf «asozialer»! Ich schüttle mich aus der negativen Gedankenspirale und wende mich wieder meinem etwas holprigen Zahlvorgang zu: Die Kassierin hat zum Handlesegerät gewechselt und ist gescheitert, mehrmals schon. Mit der gewohnten Gelassenheit tippt sie die Ziffern des Barcodes einzeln in die Kasse. Der Hals des Erdmännchens ist weiterhin aufs Äusserste gestreckt, der Kopf bleibt still, um nicht zu sagen, starr.
Es ist ein bewegender Moment für alle Beteiligten, auch für jene zwischen mir und dem Erdmännchen. Sie spüren, dass sie hier unverhofft Teil von etwas Grossem geworden sind, ohne wirklich zu verstehen, was dieses Grosse ist. Vielleicht sollte ich diesen Text nach seiner Publikation in meiner Einkaufsfiliale als Pamphlet verteilen. Vielleicht erkennen sich die Protagonist*innen wieder. Vielleicht erkennen aber auch Sie sich wieder. Na? Nehmen Sie sich doch bitte einen Moment Zeit und stellen Sie sich folgende drei Fragen zu meiner Geschichte: Möchten Sie die Kassierin sein? Möchten Sie das erzählende Ich sein? Möchten Sie das Erdmännchen sein? Egal, was Sie geantwortet haben: Seien Sie kein Erdmännchen!
Amina Abdulkadir
Amina Abdulkadir wurde 1985 im somalischen Mogadischu geboren. Als Vierjährige kam sie mit ihrer Familie in die Schweiz, aufgewachsen ist sie im Aargau. Sie hat ein ETH-Studium in Lausanne begonnen und liess sich danach zur Ergotherapeutin ausbilden. Seit einigen Jahren arbeitet sie als selbständige Autorin und ist auf Slam-Poetry-Bühnen zu sehen. 2016 ist ihr literarisches Debüt «Alles, nichts und beides» mit Kürzestgeschichten erschienen.
Amina Abdulkadir lebt in Zürich.
www.abdulkadir.ch