Marina Abramović war 14 Jahre alt, als sie einen Schulkameraden einlud, russisches Roulette zu spielen. Sie holte den Revolver ihres Vaters aus dem Nachttisch. Ihr Freund hielt sich den Lauf an die Schläfe und drückte ab – klick. Jetzt nahm sie den Revolver – wieder machte es klick. Dann zielte sie auf das Bücherregal und drückte ab. Mit einem Riesenknall schlug die Kugel in den Rücken von Dostojewskis «Der Idiot». Eine weitere Kindheitserinnerung sind ihre Migräneanfälle. Sie dauerten oft einen ganzen Tag. Es war der Beginn der Schulung, «grosse Schmerzen und grosse Angst zu akzeptieren und auszuhalten». Diese zwei Szenen lassen erahnen, wohin Abramovićs Reise führen wird: Kunst muss verstören. Mehr noch: Kunst ist Leben und Tod.
«Das Leben selbst in die Kunst umsetzen»
Mit 70 Jahren legt die Performance-Künstlerin ihre Autobiografie vor. Die Jugend in Belgrad beschreibt sie als grosses Desaster. «Bei uns herrschte nie Freude.» Die Mutter kontrollierte und korrigierte das ganze Dasein. Nylonstrümpfe waren ein «verbotenes Objekt der Begierde». Die Eltern hatten als Partisanen gegen die Faschisten gekämpft. Die Mutter machte Karriere in der Partei; der Vater war ein Volksheld. Sie waren «überaus mutig und stark». Eigenschaften, die sie von ihren Eltern geerbt habe. «Wenn es darum geht, etwas Riskantes zu tun, denke ich nicht nach. Ich tue es einfach.»
Marina Abramović wollte «das Leben selbst in die Kunst umsetzen». Dazu musste sie Grenzen überschreiten – immer wieder und immer weiter. Eine ihrer ersten Performances, «Rhythm 10», führte sie 26-jährig im schottischen Edinburgh auf. Sie nahm ein Messer, legte ihre linke Hand auf ein weisses Papier, spreizte die Finger und stach dazwischen – so schnell sie konnte. Jedes Mal wenn sie einen Finger traf, nahm sie ein neues Messer, wieder und wieder – zehn insgesamt. Nach einer Stunde war das Papier blutrot und die Performance zu Ende. Danach habe sie ein «seltsames Gefühl» verspürt. «Es war, als würde elektrischer Strom durch meinen Körper fliessen, als wären das Publikum und ich eins geworden.»
Körperliche Qualen gehörten zum Programm. 1975 nahm sie erstmals eine Performance auf Video auf. Sie sass nackt vor Publikum. Mit einem Metallkamm bürstete sie sich die Haare und riss sie büschelweise aus. Dabei wiederholte sie ständig den Satz «Art must be beautiful, artist must be beautiful». Die Performance sei «zutiefst ironisch» gewesen. «In Jugoslawien war ich mit der ästhetischen Vorgabe aufgewachsen, dass Kunst schön zu sein hatte. Dieses Konzept von Schönheit wollte ich zerstören.»
Einsamkeit, Schmerz, Grenzüberschreitung
Dann lernte Marina Abramović den deutschen Künstler Ulay oder Frank Uwe Laysiepen kennen. Die symbiotische Beziehung dauerte zwölf Jahre. «Von Anfang an atmeten wir dieselbe Luft, schlugen unsere Herzen im gleichen Takt.» Ulay machte Polaroidfotos, auf denen zu sehen war, wie er sich ins eigene Fleisch schneidet. Einsamkeit, Schmerz, Grenzüberschreitung – das waren Themen, welche die beiden verbanden.
Viele der gemeinsamen Performances gehören heute zum Kanon dieser Kunstform. Zum Beispiel «Light/Dark» von 1977. Ulay und Marina knieten einander gegenüber und ohrfeigten sich abwechselnd. Das Paar bemühte sich, «zu einer dritten Wesenheit zu verschmelzen». Sie wollten Männlichkeit und Weiblichkeit hinter sich lassen. Doch Abramović wurde in der Partnerschaft mehr und mehr zur dominanten Figur. Die letzte gemeinsame Performance fand 1988 statt: «The Lovers – The Great Wall Walk». Abramović und Ulay waren während 90 Tagen 2500 Kilometer auf der Chinesischen Mauer aufeinander zugelaufen. Das Zusammentreffen besiegelte das Ende. «Alle Wärme war aus ihm gewichen. Wenig später erfuhr ich, dass er seine Dolmetscherin geschwängert hatte.»
736 Stunden schweigend vor 1500 Besuchern
Dann begann eine neue Zeit, Begegnungen mit Musikern wie Lou Reed und Laurie Anderson, mit der Schriftstellerin Susan Sontag und der Künstlerin Rebecca Horn, mit Galeristen und Kuratoren. Sie kaufte ein Haus in Amsterdam, nahm Gastprofessuren in Paris, Berlin und Hamburg an. 1997 erhielt sie an der Biennale in Venedig für die Video-Performance «Balkan Baroque» den Goldenen Löwen.
Sie sang Totenlieder aus ihrer kaputtgeschossenen Heimat und schabte an vier Tagen je sieben Stunden madiges Fleisch von blutigen Rinderknochen. Mit 50 wollte ihr damaliger italienischer Lebensgefährte Paolo, dass sie sich zur Ruhe setzt. Sie heirateten. Fünf Jahre später waren sie geschieden. Abramović stürzte sich danach in die Arbeit. Höhepunkt war 2010 die Retrospektive im Museum of Modern Art in New York unter dem Titel «The Artist Is Present». 750 000 Besucher wollten die Ausstellung sehen. 1500 von ihnen sass sie 736 Stunden schweigend gegenüber.
Eine Monumentalperformance genauso wie ihr Werk und Leben, erzählt auf 480 Seiten (leider ohne Register), so dicht, detailliert und schonungslos, dass es einem manchmal fast zu viel wird – aber eben nur fast –, frei nach dem Abramović-Motto: «Um ein Ziel zu erreichen, muss man alles aufgeben, bis man nichts mehr hat – und dann muss man das Ziel aufgeben. Es passiert von allein.»
Buch
Marina Abramovic´
«Durch Mauern gehen»
Autobiografie 480 Seiten (Luchterhand 2016).