Zwei dunkle Männergesichter, frontal gefilmt, erzählen sich, was sie sehen. «Schau mal, dort unten fährt ein Zug. Überall hat die Schweiz Züge.» Schnitt. Jetzt sieht man die Männer von hinten: Silhouetten im Gegenlicht auf einem Balkon. Im Hintergrund eine Landschaft wie ein Gemälde von Hodler: umwölkte Bergspitzen, darüber blauer Himmel. «Das muss Schnee sein. Siehst du das auch?»
Die Szene ist aus «Life In Paradise – Illegale in der Nachbarschaft», einem Dokumentarfilm über das Asylwesen in der Schweiz des Bündners Roman Vital. Im Mittelpunkt stehen das Ausreisezentrum Valzeina im Prättigau und die Dorfbevölkerung, die dazu Stellung bezieht. «Flüeli» heisst das Zentrum weit oben in der Streusiedlung, eingebettet in eine idyllische voralpine Landschaft. Es beherbergt abgewiesene Asylsuchende – wie die zwei Männer auf dem Balkon, um sie zur freiwilligen Ausreise in ihre Heimatländer zu bewegen.
Der «Türöffner»
Den Anstoss zum Film habe «die 2006 eingeleitete Verschärfung des Asylrechts» gegeben, sagt Roman Vital, der 1975 in Arosa geboren ist. 2008 hörte er vom «Flüeli», besuchte den Ort und fasste den Entschluss, die Situation «sichtbar zu machen». Vital versteht sich als «Türöffner». Als einer, der Schranken zwischen Welten und Kulturen abbaut und Geschichten erzählt darüber, «wie sich die Gesellschaft verändert und wir Menschen miteinander umgehen».
Realisiert hat Vital sein Projekt während fünf Jahren. Premiere war im April 2013 in Chur. Zuerst galt es, Überzeugungsarbeit zu leisten bei den kantonalen Behörden in Chur, bei der Zentrumsleitung im «Flüeli», bei der Dorfbevölkerung und den Asylsuchenden. Dafür brauchte Vital eineinhalb Jahre. Die Dreharbeiten dauerten vier Wochen. «Nötig gewesen wären weitere vier Wochen, doch dafür reichte das Geld nicht.» Der Film kostete rund 300 000 Franken. Der Kanton Graubünden, Stiftungen und Private steuerten 140 000 Franken bei. Die restlichen 160 000 Franken schoss die Kollektivgesellschaft «klubkran» in Zürich ein. Das sind drei Leute, die seit 2006 gemeinsam Dokumentarfilme für Kino, Fernsehen und DVD produzieren. Roman Vital ist Realisator, Sandro Zollinger Produzent und Autor, während Produzent Andri Probst auch für Musik und Sounddesign zuständig ist.
«Unsere Filme entstehen im Team», sagt Roman Vital. Entscheidend ist das Prinzip der Querfinanzierung. «klubkran» produziert Filme, die etwas einbringen, sich etwa als DVDs gut verkaufen lassen, und «Filme mit Herzblut» zu gesellschaftlich komplexen Themen. «Mit den Einnahmen der ersten Kategorie finanziert sich die zweite», erklärt Vital.
In die erste Kategorie gehören etwa Filme über Eishockey-Clubs in Arosa, Bern oder Davos. «Life In Paradise» hätte er ohne Querfinanzierung nicht drehen können. Vor allem, weil ihm die grossen Fördertöpfe der öffentlichen Hand – das Bundesamt für Kultur, die Zürcher Filmstiftung sowie Schweizer Radio und Fernsehen – ihre Unterstützung versagten. Öffentliches Geld fliesse leichter, «wenn der Regisseur schon bekannt ist und viele Preise gewonnen hat», sagt der Filmer.
Grosse Beachtung
Im neuen Filmförderkonzept des Bundesamtes für Kultur ist der Erfolg als Kriterium festgeschrieben. Das führe dazu, dass bei der Vergabe der Gelder wirtschaftliche und nicht inhaltliche Interessen im Vordergrund stünden, sagt Vital. «Leider ist Filmförderung in der Schweiz oftmals Wirtschaftsförderung und nicht Kulturförderung.»
Von ihrem Weg abbringen lassen sich die drei Filmer von «klubkran» dadurch nicht. Mit gutem Grund: «Life In Paradise» hat in den Medien ein starkes Echo ausgelöst. Ins Programm aufgenommen haben ihn auch Festivals in Solothurn, Berlin, Kiew, Graz und München. In Paris eröffnete er das Festival International du Film des Droits de l’Homme und wurde mit dem Spezialpreis der Jury und dem UNHCR-Preis ausgezeichnet.
Wie ist Roman Vital zum Dokumentarfilmer geworden? Sein Vater habe eine Filmkamera gehabt, erzählt er. Die jugendliche Neugier habe ihn angetrieben, damit etwas zu produzieren. Mit Freunden hat er seinen ersten Film über «unsere damalige Befindlichkeit» realisiert, der in Arosa erfolgreich gezeigt wurde.
Eine Filmschule zu besuchen, getraute sich Vital zuerst nicht. Er studierte Journalistik und Kommunikationswissenschaft in Freiburg, bevor er die Aufnahmeprüfung an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg bestand. «Ich wollte aus der Schweiz raus. Denn um sie kennenzulernen, musste ich sie verlassen.»
Nachdem Roman Vital das Rüstzeug (Drehbuch, Regie, Kamera, Schnitt) gelernt hatte, stellte sich die Frage: Dokumentarfilm oder Spielfilm? Er entschied sich für den Dokumentarfilm, «weil ich Menschen nicht inszenieren, sondern so zeigen möchte, wie sie sind». Er spiegle die Wirklichkeit und zeige mit frei zusammengestellten Ausschnitten, wie er sie interpretiere. Als Filmer mache er so «unverfälscht gültige Aussagen», betont Vital.
Für «Life In Paradise» hat Vital dreissig Stunden Film mit ins Atelier genommen. Nach dem Rohschnitt folgten schrittweise Kürzungen und Umstellungen bis zur 78-minütigen Endfassung, die seinem Anspruch auf Authentizität genügte.
«Ins Landesinnere und darüber hinaus»
Perspektiven des Schweizer Dokumentarfilms in 14 Porträts
160 Seiten
(Limmat Verlag 2014).