Wer je in der Oper war, wird das kennen: Für ein kleines Räuspern erntet man bereits 50 böse Blicke. Und will man der Kröte im Hals mit einem Hustenbonbon zu Leibe rücken, stösst einem der hochrotköpfige Sitznachbar als Rache fürs knisternde Papierchen das zusammengerollte Programmheft in die Rippen. Denn mucksmäuschenstill soll es sein in unseren Opernhäusern. Das war nicht immer so. In früheren Jahrhunderten war die Oper eine gesellschaftliche Begegnungszone, bei der die Musik ein Teilaspekt war. Nebenher konnte das Publikum Karten oder Schach spielen, dinieren oder in sichtgeschützten loges grillées «womöglich Dinge tun, über die man als Gentleman nicht sprach».
Mit viel Humor
Solche Geschichten heben das Opernbuch «Eine Geschichte der Oper. Die letzten 400 Jahre» von Carolyn Abbate und Roger Parker wohltuend ab von anderen Gelehrtenbüchern über die Entwicklung dieser Kunstgattung. Was sie beschreiben, ist aber nicht nur eine Anekdotensammlung, sondern eine umfassende Geschichte der Oper: Eine Musik- und Werkgeschichte ebenso wie eine Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Abbate und Parker tun dies mit viel Humor und stellen jeden noch so gefestigten Tatbestand in Frage.
So finden sie es keineswegs selbstverständlich, dass sich in Italien vor rund 400 Jahren eine Kunstform zu entwickeln begann, in der Bühnenhandlungen (fast) ausschliesslich gesanglich gestaltet werden. Dies mache die Oper von vornherein realitätsfern: «Sie kann nie etwas anderes sein als unwirklich.» Konsequenterweise verzichten Abbate und Parker auf Notenbeispiele. Denn die Oper ist für sie keine knochentrockene Partitur, sondern ein illusionsbeschwörendes Bühnenereignis.
Eckpunkte wären da etwa Mozarts verdichtete Psychologisierung der Figuren, die formalisierte Virtuosität der Gesangssoli bei Rossini oder Wagners Verschwindenlassen des Orchesters im versteckten Graben. Solche Entwicklungen verstärkten zwar die Realitätsferne von Opernwerken. Dennoch wiesen sie in ihren ersten 300 Jahren hohe Aktualitätsbezüge auf, da jede Saison fast nur brandneue Kompositionen vors Publikum kamen.
Erfolgszwang
Entsprechend hoch war der Erfolgszwang: Jede Oper – ähnlich wie heute der Film – musste «auf Anhieb einschlagen». Deshalb entwickelten sich ernste und komische Spielarten, um unterschiedliche Publikumsschich-
ten zu bedienen. Erst ab etwa 1850 bildete sich «einhergehend mit der zunehmenden Wertschätzung für die Oper als Kunstwerk» ein Repertoire aus Klassikern heraus. Und während Kompositionsaufträge von Opern in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts praktisch verschwanden, entwickelte sich die Neuinszenierung von Opern-klassikern zur eigenen Kunst.
Was müsste geschehen, um diese «museale Leidenschaft» zugunsten eines aktuellen Musikschaffens zu unterbinden? Nach Abbate und Parker reicht es nicht, neue Opern in Auftrag zu geben. Alte Werke sollte man «für immer vernichten». Die Autoren verlangen das natürlich nicht ernsthaft. Aber sie stellen kühne Positionen wie diese zur Diskussion.
Carolyn Abbate/Roger Parker
«Eine Geschichte der Oper. Die letzten 400 Jahre»
Mit 50 Farbabbildungen
736 Seiten
(C.H. Beck 2013).