Von einem Hochsitz aus sieht der Zürcher Stadtdschungel auch für Einheimische fremdartig aus. Ungewohnte Perspektiven rücken bekannt Gemeintes in andere Zusammenhänge, regen zum Nachdenken an, münden im Extremfall zu neuen Ansichten. Wenn dieser Hochsitz gar ein Ledersessel im Doppeldecker-Mannchschafts-Bus der ZSC Lions ist, durchschwebt man die Heimatstadt wie in anderen Sphären. Auf dem Bus prangt nebst dem Logo des Hockeyclubs in dicken Lettern ein klares Statement: «Mir sind Züri». Mit der Vereinnahmung dieses Spruchs und der kulturellen Umnutzung des Gefährts ist Peter Brunner ein witziger Coup gelungen. Für sein aktuelles Projekt lässt der Zürcher Theatermacher sein Publikum gleichsam in einer Sänfte durch Zürich gondeln.
«Alles in Allem» heisst das Projekt, für das Brunner, bis 2018 Leiter des so kleinen wie feinen Sogar Theater im Kreis 5, den epochalen Stadtroman des Zürcher Autors Kurt Guggenheim (1896–1983) in Szene setzt. Mit einer 45-köpfigen Crew gestaltet er das weit über tausendseitige Werk als Theaterreise quer durch Zürich. In zwölf Stunden werden acht Stationen angefahren, wo Auszüge aus dem Roman in stimmigen Szenerien gelesen, gespielt, gesungen werden.
140 Figuren nehmen Gestalt an
Dass für Zürich am Premierentag Mitte Mai noch der kaltnasse April galt, tat dem Unterfangen kaum Abbruch. Im lauschigen Park der Villa Patumbah im Zürcher Seefeld stellten sich Noémie Alexa Fiala und Alexandre Pelichet – Letzterer barfuss! – in den aparten Muschelbrunnen, um die ersten Seiten von «Alles in Allem» vorzulesen und sich dabei fliessend in verschiedene Figuren zu verwandeln. Sofort fand sich das Publikum im Zürich der Silvesternacht auf 1900 und wandelte mit dem Fabrikanten Gustav Wilhelm Meng den Weg von seiner Villa über die Quaibrücke zur Fabrik in der Enge. Mit Mengs Tochter Kätterli und deren Verehrer Karl Gebhardt traf man sich heimlich am See.
Das Konzept der szenischen Lesung fand seine Fortsetzungen in der einstigen Kaserne, im Gaswerk Schlieren oder im Quartiertreff Zehntenhaus in Zürich Affoltern. Fast die Hälfte der rund 140 Roman-Figuren nahmen im Laufe des Tages Gestalt an, verkörpert von bekannten Stimmen wie Graziella Rossi oder Nicole Knuth, Helmut Vogel oder Ingo Ospelt. Sowohl die morgendliche Villa als auch die Kaserne und das Gaswerk in Schlieren gaben dem Geschehen einen authentischen, weil im Roman vorkommenden Rahmen. Andernorts mussten Szenograf Markus Schmid und die vier beteiligten Regisseure etwas nachhelfen. Passende Atmosphären schufen sie mittels weniger Requisiten sowie Lichtstimmungen, Hintergrundgeräuschen, Gerüchen wie Stumpenrauch oder Koks.
Hannes Binders Bilder in der Polizeikantine
Für zusätzliche Kolorierungen des Geschehens sorgte Martin Schumacher mit passenden Soundtracks. Der Multiinstrumentalist zauberte mit seiner klagenden Klarinette das jüdische Zürich Kurt Guggenheims herbei oder gab einer rauschenden Party den schrillen Swing Touch der frühen 1930er-Jahre.
Eine gelungene Umsetzung von Kurt Guggenheims Ideen einer idealen Stadt schuf Hannes Binder. Die Schraffur-Bilder des bekannten Zürcher Illustrators waren in der Polizeikantine als überraschende Animation zu sehen. Binder hat auch die Neuausgabe von «Alles in Allem» illustriert, die zur Theaterreise erschienen ist (siehe Box).
Die Zürcher Theaterreise fand ihr Ziel an einem Hochzeitsfest im Zwinglihaus, wo zwei sehr unterschiedliche Familien das zelebrierten, worum es im Roman und seiner Umsetzung letztlich geht: das friedliche Zusammenleben im multikulturellen Biotop der Stadt Zürich.
Die 15 geplanten Theaterreisen sind bereits ausgebucht. Peter Brunner und seine Crew denken aber über eine Wiederaufnahme nach.
Alles in Allem
www.alles-in-allem-zuerich.ch
5 Fragen an Peter Brunner, Theatermacher
«Ich möchte gute Geschichten erzählen»
kulturtipp: Peter Brunner, Sie sind Initiator und Gesamtleiter des Projektes «Alles in Allem 2019». Wann zündete bei Ihnen der Funke für Kurt Guggenheims Roman?
Peter Brunner: Das war 2013. Guggenheims Opus Magnum besticht durch seine Aktualität, weil er exemplarisch das Zusammenleben und aneinander Wachsen unterschiedlicher Kulturen, Sprachen, Moralvorstellungen und Religionen zeigt. Es ist ein Gegenentwurf zum wiedererstarkten Populismus und Ultranationalismus.
Können Sie die Bedeutung von «Alles in Allem» in einen Satz packen?
Da zitiere ich einen Kernsatz aus dem Roman: «In Jedem ist Jeder und Jedes, in allem ist alles.»
Früher bespielten Sie das Sogar Theater in Zürich mit seinen überschaubaren Dimensionen. Nun das erweiterte Stadtgebiet von Zürich. Wie gross war diese Herausforderung?
Eigentlich geht es mir stets um dasselbe: Ich möchte mittels Theater gute Geschichten erzählen. Eine Herausforderung war viel eher, das über tausendseitige Epos zu verdichten zu einer Theaterreise von zwölf Stunden. Die dabei erlebte und manchmal sich wie Kaugummi in die Länge ziehende Zeit ist Konzept, bewusste Zumutung und Überwältigung.
Sie führen die Reisegruppe auch in sonst unzugängliche, geschlossene Räume wie den Waffensaal der Kaserne oder die Kaverne des Seewasserwerks Moos in Wollishofen. Wie schafften Sie es, diese Türen zu öffnen?
Mit Schirm, Charme und Begeisterung.
Alle Vorstellungen sind ausverkauft. Denken Sie an eine spätere Wiederaufnahme?
Im Moment ist das ein Gedanke unter vielen. Falls es so weit kommt, werden wir das frühzeitig kommunizieren.
Kunstvoll illustrierte Neuausgabe
Kurt Guggenheims Roman «Alles in Allem» ist in den Jahren 1952–1955 in vier Teilen erschienen. Der Zürcher Autor porträtiert darin seine Heimatstadt auf aussergewöhnliche Weise, indem er Leben und Wirken von 140 Figuren als poetisches Wimmelbild montiert. Guggenheim (1896–1983) zeigt anhand Zürichs Entwicklung von 1900 bis 1945 die Entstehung eines modernen urbanen Gemeinwesens. Seinem politisch-philosophischen Denken gemäss, legt er das Gewicht auf die humanistische Sichtweise eines multiplen Zusammenlebens und wagt gar Visionen einer «idealen Stadt». Im Rahmen des Zürcher Theaterprojektes «Alles in Allem» ist Kurt Guggenheims Roman neu erschienen. Herausgeber Charles Linsmayer griff dabei auf seine Werkausgabe zurück, die er um ein Nachwort ergänzte. Zudem hat der Zürcher Illustrator Hannes Binder 28 Schraffur-Bilder geschaffen, die Guggenheims Stadt-Visionen umsetzen und weiterdenken.
Buch
Kurt Guggenheim
Alles in Allem
1216 Seiten
28 Illustrationen
(Th. Gut Verlag 2018)