Wer in Reussbühl aufgewachsen ist, kann Schachteln mit Geschichten füllen. Im Winter schlittelten wir die Hügel runter, im Frühling flogen Störche zum Nisten an, im Sommer weideten Kühe mit Hörnern auf den Wiesen, am Abend spielten die Väter mit uns Völkerball. Es gibt in Reussbühl einige, die sind im Leben gross herausgekommen. So gross, dass sie bereits über uns schweben.
Georges Zietala war so einer. Er zog mit den Schulkollegen vom Nachbarhügel jeden Morgen in letzter Minute an unserem Haus vorbei. Fluhmühlegang nannten wir sie. Sie trugen Holzschuhe von der Armengemeinde, die sie mit Eisenplättchen beschlugen. Es funkelte unter ihren Füssen, wenn ich ihnen mit Abstand auf dem Schotterweg zum Schulhaus folgte.
Ihr schweigendes Gehen macht mir heute noch Herzklopfen. Georges war der Jüngste von ihnen. In meiner Klasse sass er zuhinterst, allein an seinem Pult. Alles an ihm war gross, seine Ohren unter dem strohig abstehenden Haar, seine Hände, die sich auf den Oberschenkeln wie Pranken bereit zum Angriff ballten.
Am Montag kam der Milchmann, am Dienstag der Migroswagen, am Mittwoch war Schulmesse mit nüchternem Magen, am Donnerstag Rosenkranz, am Freitag Religionsunterricht. Aufstehen und dem Pfarrer sagen, ob und wann wir beichten waren. Das warme Mutschli vom Bäcker nach der Schulmesse war mir das Liebste. Das gabs jedoch nur, wenn man einen Batzen hatte.
In der zweiten Klasse hatten Georges und ich unseren ersten Bühnenauftritt im Zollhaus. Als Zwerg verkleidet kündete ich den jährlichen Unterhaltungsabend an. Das ganze Dorf sass im Saal. Der Hypnotiseur mit seinen Verwandlungskünsten gehörte, nebst den obligaten Kirchenanlässen, zum Highlight in Reussbühl. Georges kletterte als Erster auf die Bühne. «Fliegen», sagte er. Ein Erfolgserlebnis war ihm garantiert. Beim Zurückbringen gelang es dem Hypnotiseur jedoch nicht immer.
Das Zollhaus steht längst nicht mehr. Nur der Brückenkopf, wo die Emme und die Reuss zusammenfliessen, erinnert daran, dass hier bis ins späte 18. Jahrhundert ein Richtplatz war. Holz gab es genug, um Hexen zu verbrennen. Bei Hochwasser trug die Emme ganze Baumstämme mit. Im Sommer suchten wir im trockenen Flussbett unter den Emmenbölen nach Knochen. Einer liegt noch heute bei mir in einer Nische. Ein Geschenk von Georges Zietala.
Der Pfarrer wohnte mit seiner Köchin allein neben der Kirche. Sein Haus war fast so gross wie unseres auf dem Hügel, wo zwölf Familien mit Dutzenden Kindern unter demselben Dach lebten. Vor der ersten heiligen Kommunion übten wir den Einzug in die Kirche. Unter den Füssen von Georges funkelte es. Wir gingen in Zweierreihe Hand in Hand durch den Mittelgang und knieten vor den Pfarrer hin. «Corpus Christi», berührte er mit feuchten Fingern unsere Zunge, die wir ihm entgegenstreckten. Mutter nähte mir ein weisses Spitzenkleid für diesen Tag. Ich übte vor dem Spiegel beichten und dachte an Georges Zietala.
Drei Jahre später kam das Firmen. Der Pfarrer machte uns mit öligen Fingern ein Kreuz auf Kopf und Stirn. Als Zeichen vom Kind sein zum Erwachsenwerden. Mutter nähte mir ein rosarotes Kostüm. Georges bekam grössere Holzschuhe. Damals begannen wir mit den Mutproben im Chilewald. Küssen war angesagt. Wer ein Zündholz mit Schwefel zog, durfte ein Mädchen oder einen Jungen wählen. Georges hatte es auf mich abgesehen. Ich folgte seinen Funken den Hügel runter, wo der Berner Zug aus dem Tunnel fuhr. Georges stellte sich direkt über das Loch und legte seine Hände auf meine Schultern. Ich zitterte wie nachts in meinem Doppelstockbett, wenn unter unserem Haus der Zug durchfuhr. Ein Windstoss. Die Lokomotive kündete sich mit einem langen Pfiff im Berg drin an. Da verliess mich der Mut. Ich verlor den Stand im steilen Chilewald.
Georges kam im letzten Schuljahr mit Eisenketten behangen, in Lederjacke und Lederstiefeln zum Unterricht. Jeden Samstag musste er den schweren Papierkorb hinter dem Schulhaus in die Mülltonne kippen. Randvoll mit Apfelgriebs, kaputten Tintenfedern, Farb und Bleistiftstumpen. Er machte das stillschweigend. Bis zum letzten Schultag. Da packte er den Lehrer mit seinen Pranken, hob ihn hoch und steckte ihn kopfüber in den stinkenden Korb. Danach trennten sich unsere Wege.
Irgendwann munkelte man, Georges hätte schon einiges ausprobiert. Was genau, darüber redete man nur hinter vorgehaltener Hand bei uns in Reussbühl. Es gab bereits einen Todesfall. Hinten am Berg, da, wo der Zug in den Tunnel reinfährt. Ein Schulkollege. Er war einen Kopf kleiner als Georges Zietala. Auch ein stiller.
Georges wurde Wirt und übernahm das Zollhaus. Mein Weg führte in die Stadt Luzern ans Lehrerseminar. Auf der Seebrücke begegneten wir uns später wieder. Eine Hand mit Eisenketten legte sich auf meine Schulter. Ein warmer Hauch im Nacken wie damals im Chilewald. Jetzt wäre der Moment gut gewesen, hätte ich gewagt, den grossen Pupillen von Georges standzuhalten.
Jahre später las ich in der Zeitung seine Todesanzeige. Georges hatte genug vom Leben. Er setzte sich mit seiner Pranke in der Badewanne vom Zollhaus ein Ende. «Möge er ruhen in Frieden», sagte der Pfarrer, als der Sarg ins Erdloch sank. Hätte ich doch damals, als der Pfiff der Lokomotive den Zug ankündete, auch meine Hand auf die Schulter von Georges gelegt.
Der Musiker und Sänger Hösli, auch ein zu früh Verstorbener, widmete Reussbühl eine CD. Darauf singt er mit seiner Tom-Waits-Stimme das Lied von der Agglo: «Reussbühl, hörte ich schon sagen, nirgends auf der Welt ist es wie in Reussbühl.»
Zur Person
Alice Schmid (* 1951) ist im Luzerner Vorort Reussbühl aufgewachsen. Sie studierte Italienisch und Spanisch, an der Uni Bern ein Semester lateinamerikanische Kinogeschichte und später an der Film Academy in New York Drehbuchschreiben.
1996 gründete sie ihre eigene Filmproduktionsfirma Ciné A. S. in Zürich. Für ihre Dokfilme über Kindheiten rund um die Welt hat sie zahlreiche Preise erhalten. Bekannt geworden ist sie mit dem Dokfilm «Die Kinder vom Napf» (2011). In diesem Jahr ist ihr zweiter Roman «Die hängende Säge» erschienen. Alice Schmid lebt in Luzern.