Am Anfang war die Idee für einen Dokumentarfilm: Die französische Regisseurin Lucie Borleteau (34) hatte sich als einzige Passagierin mit einem Containerschiff auf eine zweiwöchige Atlantiküberquerung begeben. Statt des Dokfilms drehte sie einen Spielfilm. Das Werk ist authentisch, alle Aufnah-men entstanden tatsächlich auf einem Frachtschiff und nicht etwa im Studio. So wirkt dieser Spielfilm dokumentarisch, auch die Arbeit der Seeleute und die Technik sind stimmig.
Im Technischen muss sich die Protagonistin auskennen: Alice (Ariane Labed) ist Schiffsmechanikerin, die als Aushilfe auf dem alten Frachter «Fidelio» angeheuert wird. Über Nacht muss sie antreten, denn der bisherige stellvertretende Mechaniker ist überraschend verstorben. Alice erhält die Kabine des Verstorbenen und findet dort seine Aufzeichnungen, intimste Gedanken, die von einem Leben ohne wahre Erfüllung berichten. Diese «Erinnerungsspur» eines Fremden bildet die eine Erzählebene. Die andere ist die Geschichte von Alice.
Allein unter Männern
Sie lebt während Monaten auf hoher See und bei den gelegentlichen Landgängen allein unter Männern einer multikulturellen Besatzung. Alice steht ihren Mann souverän im Maschinenraum voller Lärm und Dreck. Es ist die Umkehrung des Seemann-Klischees: Alice ist nicht die zurückgelassene Braut im Hafen, sie zieht hinaus und lässt einen Geliebten an Land zu-rück, den norwegischen Comic-Zeichner Félix (Anders Danielsen Lie). Zu ihrem 30. Geburtstag schickt er ihr eine Kiste mit 30 Büchern nach. Aber sie liebt unterdessen auch einen andern – Kapitän Gaël (Melvil Poupaud), ihre erste grosse Liebe von früher. Dass er die «Fidelio» befehligt, wusste sie nicht – ein zufälliges Wiedersehen mit erotischen Folgen.
«Fidelio» heisst die einzige Oper von Beethoven; im Namen steckt das Wort «Treue». Alice bleibt sich auf ihrer Entdeckungsreise selber treu, auf einer wahren «Odyssee von Alice» (so der Untertitel): Es ist eine Irrfahrt, die zum Ausgangspunkt zurückführt. Die «Fidelio» selber macht auch eine solche Irrfahrt durch, denn der Frachter muss je nach Marktlage die Richtung ändern und wechselnde Häfen ansteuern – bis zur Verschrottung in Danzig.
Weiter Horizont
Als formale Auffälligkeit ist «Fidelio» im Breitbildformat gefilmt worden. Ein geeignetes Format zur Darstellung des offenen weiten Horizonts. Aber auch ideal für die engen Schauplätze des Schiffes, die Gänge und die Kabinen, so Regisseurin Borleteau: «Die breite Leinwand verstärkt den klaustrophobischen Eindruck. Es ist ein gutes Format, um eine schlafende oder liegende Frau zu filmen.»
Ariane Labed (siehe auch «Love Island») erhielt letztes Jahr am Filmfestival Locarno den Preis für die beste Darstellerin.
Fidelio, l’odyssée d’Alice
Regie: Lucie Borleteau
Ab Do, 25.6., im Kino