Das junge Mädchen besucht täglich ein Bild in der ehrwürdigen Londoner National Gallery. Denn der Teenager hat die Angst vor dem Musentempel nach anfänglichem Zögern überwunden: «George ist unwillkürlich immer stärker gefesselt von dem Bild, und das, obwohl es – wie die andern Bilder in dem Raum, die alle vor 500 Jahren entstanden sind – auf den ersten Blick kaum etwas mit der Wirklichkeit zu tun hat …» Nach und nach findet die junge Besucherin in die Welt der Renaissance. Das packende Werk stammt vom italienischen Renaissance-Künstler Francesco del Cossa (1435–1478); die neugierige Betrachterin ist das Teenagergirl George.
Das ist eine Schlüsselszene im neuen Roman «Beides sein» der schottischen Schriftstellerin Ali Smith, der soeben auf Deutsch erschienen ist. Sie spielt in diesem sperrigen, aber wundervoll geschriebenen Buch mit allem, was der Verwirrung ihrer Leser dient: mit den Zeiten, den Perspektiven oder der Genderfrage. George ist zwar ein männlicher Name, aber es steckt ein Mädchen dahinter. Francesco del Cossa ist zuerst als Kind ein Mädchen, dann ein Mann, und wird wieder eine Frau.
Smith verknüpft die Biografien des modernen Mädchens so raffiniert mit der Lebensgeschichte des florentinischen Künstlers, dass die beiden Buchteile in freier Reihenfolge lesbar sind.
Originelle Feministin
Der Luchterhand-Verlag hat den Roman entsprechend herausgegeben: Die eine Hälfte der Auflage beginnt mit George, die andere mit Francesco. Das tönt so verzwickt, wie es ist, denn das Verständnis der Geschichte durch die Leserschaft fällt entsprechend unterschiedlich aus – als ein moderner Roman mit einer historischen Erweiterung oder eine historische Geschichte mit einer modernen Zufügung. «Ein guter Roman muss viel offenlassen, statt alles zu erklären», sagte die 54-jährige Autorin dazu in einem Interview mit dem «New Statesman».
Die Feministin Ali Smith gehört zu den originellen Figuren der britischen Literaturszene. Sie wuchs in Inverness auf, studierte in Aberdeen und Cambridge, wo sie heute noch lebt. Nach einer beruflichen Krise als Literaturdozentin begann sie zu schreiben und hat seitdem zahlreiche Kurzgeschichten sowie eine halbes Dutzend Romane herausgegeben, die sie ihrer langjährigen Lebenspartnerin widmet. Smith hat die Anerkennung des Establishments gewonnen und ist ein «Commander of the British Empire».
Reise nach Ferrara
Die Geschichte der jungen George ist eine Alltagstragödie. Sie trauert um ihre früh verstorbene Mutter, muss sich um den stets betrunkenen Vater kümmern und für einen kleinen Bruder sorgen. Sie besucht regelmässig Sitzungen mit der Schulpsychiaterin, die sie mit Therapiegeschwätz ruhigzustellen versucht. Wirkliche Zuwendung findet George lediglich bei einer Schulfreundin, aber die muss schon bald mit ihren Eltern nach Dänemark umziehen, «in eine Stadt, deren Name wie Whorehouse auf Schottisch tönt» (Aarhus).
Um ihre Trauer zu lindern, erinnert sich George gerne an eine Reise nach Ferrara, die sie mit der Mutter kurz vor deren Tod unternommen hat. Dort stiessen die beiden auf den Künstler Francesco del Cossa, von dem die Nachwelt nur weiss, dass er sich in einem Brief an seinen Mäzen über die magere Bezahlung beschwerte. Francesco del Cossa wuchs im 15. Jahrhundert in ärmlichen Verhältnissen in Ferrara auf, wurde aber von seinen Eltern künstlerisch gefördert. Das schreibt zumindest Ali Smith, die zugibt, dass über das wahre Leben des Künstlers wenig bekannt ist.
Die Verwandlung
Die Mutter von Francesco stirbt früh, der Vater kümmert sich um seine berufliche Laufbahn, weil er das malerische Talent des Kleinen erkennt. In Smiths Version ist nie ganz klar, ob es sich bei dem Wesen, um ein Mädchen oder einen Jungen handelt. Wie auch immer, die Heranwachsende muss Jungenkleider anziehen, weil sonst die Malaufträge von Mäzenen ausbleiben: «Der Vater zog eine Jungenkleidung aus der Tasche seines Arbeitskittels, leicht und dünn in der Hitze: schwenkte sie lockend hin und her, wie man es mit einem Büschel Grünzeug vor einem Maultier tut, wenn es weitergehen soll.» Francesco ist nun definitiv ein Berufsmann, ein selbstbewusster zudem, der schnell erkennt, dass er besser ist als andere Künstler.
«Beides sein» ist keine einfache Lektüre. Es braucht eine gewisse Zeit, um dem Duktus der Erzählerin zu folgen. Aber wenn man ihn einmal begriffen hat, lohnt sich das Lesen jeder einzelnen Seite.
Buch
Ali Smith
«Beides sein»
320 Seiten
(Luchterhand 2016).