Seit ein paar Monaten steht Algerien im Brennpunkt des politischen Interesses. Hunderttausende Menschen haben im vergangenen April mit Demonstrationen den Rücktritt ihres 82-jährigen Präsidenten Abdelaziz Bouteflika bewirkt. Seither kämpfen sie für mehr Freiheit und Demokratisierung und hoffen, dass die Präsidentenwahl vom 4. Juli eine Veränderung im Land bringen wird. Europa indes blickt besorgt Richtung Algerien: Ein Machtwechsel birgt immer Explosives. Und noch liegt vor allem dem einstigen Mutterland Frankreich die Vergangenheit schwer auf. Die Grande Nation hat es bislang versäumt, die Geschichte Algeriens und die von Gewalt begleitete Trennung aufzuarbeiten.
«Frankreich näht sich den Mund zu»
Was die französische Regierung und ein Gros der Bevölkerung über Jahrzehnte gerne verschwiegen haben, brachten bereits vor den jüngsten Ereignissen Schriftstellerinnen und Schriftsteller mit algerischen Wurzeln in ihren Büchern zur Sprache. Einige von ihnen erschienen auch auf Deutsch. Etwa das Werk «Die Kunst zu verlieren» der 33-jährigen Alice Zeniter. In ihrem fünften Roman rückt die in Paris lebende Autorin das Schicksal ihrer Familie ins Licht. Sie gehörte zu den sogenannten Harkis, denjenigen Menschen, die wegen ihrer vermeintlichen «frankreichtreuen Haltung» nach dem blutigen Befreiungskrieg in Algerien um ihr Leben bangen mussten. Gemeinsam mit Hunderttausenden von Algerienfranzosen, den Pied-noirs, zogen sie 1962 nach Frankreich.
Mit offenen Armen wurden sie dort allerdings nicht empfangen. Vielmehr verfrachtete man die Ankömmlinge ins südfranzösische Rivesaltes – in «ein eingezäuntes Stück Land voller Gespenster». Der Ort, der seit 1939 immer wieder als Internierungslager diente, sollte bis Ende 1964 für über 20 000 Harkis monatelang zum neuen Zuhause werden. Die Harkis besassen zwar einen französischen Pass, aber nur beschränkte Rechte. Ihr Schicksal erfuhr damit gleich eine doppelte Tragik, denn mit dem Wegzug verloren sie nicht nur ihre Heimat, sondern auch ihre Würde. «Algerien nennt sie Ratten. Verräter. Hunde. Terroristen. Abtrünnige. Banditen, Unreine. Frankreich nennt sie gar nicht oder nur sehr selten. Frankreich näht sich den Mund zu, indem es die Auffanglager mit Stacheldraht umgibt», so Zeniters bittere Worte im Buch.
Alice Zeniter geht in ihrer Geschichte weit zurück
In ihrer autobiografisch gefärbten Familiensaga setzt Zeniter die 30 Jahre alte Naïma als Erzählerin ein. Diese rollt die Geschichte um ihren Grossvater Ali chronologisch auf und blendet zurück bis in die 1930er-Jahre. Da lebt Ali noch in der Kabylei, wo er sein Leben als Olivenbauer bestreitet. Als Harki (Hilfssoldat) kämpft er im Zweiten Weltkrieg an der Seite der Franzosen. Im Bürgerkrieg gerät er ins Visier der Rebellen und verlässt 1962 Algerien mit seiner Familie. Die beschwerliche, lange Reise endet in einer gesichtslosen Siedlung in der Haute Normandie. Der Sprache nicht mächtig, abgeschoben in eine triste Vorstadtsiedlung, verstummt Ali mehr und mehr.
Der Roman «Die Kunst zu verlieren» ist ein beeindruckendes Werk, das nicht nur die Thematik von Entwurzelung und Heimatverlust aufgreift, sondern auch politische Hintergründe liefert zur Algerien-Frankreich-Problematik. Dabei lässt die Autorin für einmal die Verlierer, Geächteten und Heimatlosen zu Wort kommen. Sie habe bewusst die Seite gewechselt, sagt sie gegenüber der «Zeit». Zu viele Autoren würden vom Algerienkrieg aus der Sicht der Franzosen berichten und die Algerier darin positionieren wie Palmen oder Wüstensand.
Kaouther Adimis literarisches Gestern
Von verlorenem Kulturgut berichtet Kaouther Adimi. Die Autorin wurde 1986 in Algier geboren und lebt seit 2009 in Paris. Ihr Roman «Was uns kostbar ist» erzählt vom franko-algerischen Verleger Edmond Charlot (1915–2004), der 1936 in Algier eine Buchhandlung eröffnete. Diese wurde im Laufe der Jahre ein Begegnungsort für Bücherfreunde und Autoren. Auch Albert Camus, André Gide oder Philippe Soupault verkehrten im Haus. Mit fiktiven Tagebucheinträgen lässt die Autorin im Buch die Vergangenheit Charlots aufleben. Gleichzeitig erzählt sie vom Pariser Studenten Ryad, der in seinen Semesterferien die verlassene Buchhandlung leer räumen soll. Schon bei seiner Ankunft schlägt dem jungen Mann Misstrauen entgegen. Und als er die ersten Müllsäcke vor dem Haus deponiert, bringt er das ganze Viertel gegen sich auf. Denn mit den Büchern verlieren die alten Bewohner auch einen Teil der eigenen Geschichte.
Kamel Daouds Blick auf einen Aussenseiter
Der 1970 geborene algerische Journalist und Autor Kamel Daoud lebt in Algerien, schreibt aber in französischer Sprache. In seinem auf Deutsch erschienenen Roman erzählt er die Geschichte des Aussenseiters Zabor. Von seinem Vater abgeschoben, wächst dieser bei einer Tante auf. Schon früh findet er den Zugang zu Büchern, fängt an, selber zu schreiben, und entdeckt dabei seine besondere Gabe: Er kann mit dem Erzählen von Geschichten das Leben von Sterbenden verlängern. Deshalb wird er ans Totenbett seines Vaters gerufen. Und dort beginnt er, sich an seine eigene Geschichte und die des ungeliebten Vaters zu erinnern. Die märchenhaft anmutenden Erzählungen basieren oft auf Episoden aus Bibel und Koran und geben einen tiefen Einblick ins Alltagsleben ausserhalb algerischer Städte.
Daoud, der selber in der Provinz gross geworden ist, setzt sich mit den Entwicklungen in seiner Heimat kritisch auseinander. Dabei beobachtet er die Lager von konservativ-islamistischen und westlich-demokratisch denkenden Kreisen genau. «Die algerische Revolution ist in meinen Augen beispielhaft, unerwartet, und sie öffnet sich aufs Unbekannte hin», schrieb er im April in der NZZ. «Dieses Unbekannte macht vielleicht Angst; aber es ist die Vorbedingung für eine Zukunft, die mehr ist als nur unabwendbares Schicksal.» Umso wichtiger, dass es Autoren gibt, welche die Befindlichkeit ihrer Landsleute ausloten und Unausgesprochenes in Worte fassen.
Frankreichs unrühmliche Geschichte
1830 besetzte Frankreich Algerien, begründete damit das zweite Kolonialreich und erklärte das Land zum Bestandteil des französischen Mutterlandes. Siedler sollten zudem Frankreichs Einfluss im Land stärken. 1950 lebten neben neun Millionen Algeriern etwa eine Million Europäer mit französischer Staatsbürgerschaft auf algerischem Gebiet. Auch die Mehrheit der Algerier besass die französische Staatsangehörigkeit, allerdings mit beschränkten Rechten. Diese Ungleichheit führte zu Spannungen, bis 1954 mit der Gründung der Nationalen Befreiungsfront Algerien (FLN) ein blutiger Befreiungskrieg begann. Dieser fand 1962 mit der Unabhängigkeit Algeriens ein Ende. Doch bis heute tut sich Frankreich mit der Aufarbeitung schwer. (sch)
Kaouther Adimi
Was uns kostbar ist
Aus dem Französischen von Hilde Fieguth
224 Seiten
(Lenos 2018)
Kamel Daoud
Zabor
384 Seiten
Aus dem Französischen von Claus Josten
(Kiepenheuer & Witsch 2019)
Alice Zeniter
Die Kunst zu verlieren
560 Seiten
Aus dem Französischen von Hainer Kober
(Berlin Verlag 2019)