Zwei Jahre Probenzeit, 240 Mitwirkende – darunter die meisten Laien, angeführt von Profis, Musikgruppen aus den unterschiedlichen soziokulturellen Milieus. Und alles mit einem Ziel: Eine «Stadt-Oper» zu schaffen, ein Stück für und über eine Stadt. Im Juni hatte «Die gute Stadt» von Sinem Altan und Tina Müller am Theater Freiburg im Breisgau Uraufführung – ein Bürgertheater, dessen ästhetischer Entwurf hier nicht weiter thematisiert werden soll. Betont sei ein anderes – das Bekenntnis zur Gattung Oper. Nicht Musiktheater, wie seit den 1970ern politisch intendiert. Nicht Musical, wie eine Zeit lang alles genannt wurde, was ein sich dem bildungsbürgerlichen Hintergrund entfremdendes Publikum fürs Theater mobilisieren lässt. Nein – Oper. Jene wahnsinnige, feinsinnige, unsinnige 400 Jahre alte Kunstform, die zu lieben eine «spezifische Art von Enthusiasmus» bedeutet. Das sagt jedenfalls einer, der es Kraft seiner langjährigen Beziehung zur Oper wissen sollte – der Zürcher Philosoph und Schriftsteller Iso Camartin.
Oper. Vier Buchstaben, die immer noch für manche das ganze Leben bedeuten. Aber wie lange noch? «Die Oper – ein Krisenszenario» titelte die Fachzeitschrift «Die deutsche Bühne» im März ihr Schwerpunktthema, innerhalb dessen sie eine Bestandsaufnahme wagte, zwischen routinierter Tradition und riskanter Zukunft. Das Ergebnis lässt sich in zwei Worten zusammenfassen: Ja, aber … Mehr Experiment, verlangen die einen. Weg vom Elitären!, die anderen. Und eine Rentnerin aus Euskirchen im Rheinland erhebt die Stimme, stellvertretend für Tausende von anonymen Opernfreunden, die in der jüngeren Vergangenheit zunehmend mit einer Oper fremdelten, die im deutschsprachigen Raum unter dem Primat (oder Diktat?) des Regietheaters steht: «Ich möchte gerne die Schönheit sehen und hören, wegen der die grossen Werke immer wieder aufgeführt werden. Aber ohne Putzfrauen auf der Bühne.»
Wie wird man zum Opernfreund? Ein kleiner Exkurs ins Private. Der Autor dieser Zeilen wuchs in einer Kleinstadt im Nordbayerischen auf, in der es in den 1960er-/1970er-Jahren immerhin noch Musiktheatergastspiele eines Städtebundtheaters gab. Man spielte Operette, ganz traditionell, und mit bescheidenen Mitteln. Provinztheater, natürlich. Aber die Nähe zu den Mitwirkenden, zum Orchester faszinierte. Alles live – unplugged. Und die Musik, die Ohrwürmer bohrten sich ein. Mit zehn dann die erste Oper auf Schallplatte – «Die Zauberflöte», natürlich. Und mit 14 der erste Besuch im nahen Bayreuth, im Gralstempel auf dem Grünen Hügel: «Tannhäuser». Vieles damals nicht verstanden, aber der Virus wirkte längst. Und sollte sich immer mehr ausbreiten …
Heute sind die Möglichkeiten, zur Oper zu finden, ungleich leichter geworden. Und doch auch um so viel schwerer. Ein Klick im Internet, und der globale Opernkosmos erschliesst sich.
Aber wie lässt sich der Dschungel, durch den wir uns bewegen müssen, erklären, wie begreifen? Versuchen Sie mal, einem Kind die Handlung von Mozarts «Così fan tutte» zu erklären. Und dann gehen Sie zum Beispiel in die jüngste Basler Inszenierung von Calixto Bieito. Wo alles ganz anders ist, eine andere Geschichte erzählt wird (nämlich die nach der Oper), wo keine Musiknummer an der Stelle steht, an die sie hingehört. Schwierig. Der Regisseur Joachim Schlömer hat vor einigen Jahren ein Experiment mit der «Entführung aus dem Serail» in Luzern gewagt. Auch da ward die musikalische Dramaturgie ausgehebelt, da bewegten sich die Figuren um Aquarien herum. Oder tauchten in sie ein.
Nein, das ist keine pauschale Regietheaterschelte. Kein Angriff auf die Freiheit der Kunst. Aber ein Nachdenken darüber, wie man heute noch oder wieder zur Oper finden kann. Und welche Perspektiven sie hat in einer Gesellschaft, die sich (mitunter) besorgniserregend schnell wandelt. Und deren kulturelles Bedürfnis zwischen den Polen geistiger Auseinandersetzung und Zerstreuung immer schwerer taxiert werden kann. Wer heute mit Oper in Berührung kommt, muss einen weit grösseren Transfer leisten als noch vor wenigen Jahrzehnten. Viele Interpretationen verlangen intensivste Kenntnis des Werks, seines Kontextes und seiner Aufführungsgeschichte. Eine fast unlösbare Aufgabe für den Opernnovizen. Oft genug fühlt der sich wohl an die Frage des Gurnemanz an Richard Wagners tumben Tor Parsifal nach der Gralszeremonie erinnert: «Weisst du, was du sahst?» Er kann es nur ahnen, erfühlen. Dann, wenn die Interpretation so stark ist, dass sie für sich spricht als eigenständiges Kunstwerk. Aber Wagners Figur des Parsifal stimmt auch optimistisch: Er wächst an dem, was er sieht und was er hört.
Es wird derzeit viel diskutiert über Oper. Wie zeitgemäss diese aufwendige Kunstform sei? Ob wir sie uns noch leisten können? Oder ob nicht die paar Grosskopferten dafür zahlen sollen, die noch in die Oper gehen. Die Kassandra-Rufer, die ihren Untergang schon im Gefolge der 68er prophezeiten, sind weniger geworden. Und auch die Dogmatiker, die glauben, der feudalen respektive bürgerlichen Kunstform Oper nur mit den Mitteln der Dekonstruktion begegnen zu können. Erlaubt ist, was gefällt. Und gerade ausserhalb des deutschsprachigen Raums, zumal in Frankreich und England, ist eine mittlere und jüngere Regisseurgeneration zu beobachten, die das Werk wieder in den Mittelpunkt ihrer Interpretation stellt und nicht ihre eigenen Befindlichkeiten: Sandrine Anglade, Mariame Clément, Stefan Herheim, Simon McBurney, Richard Jones.
Nein, die Oper bedarf keines Krisenszenarios. Sie muss vor allem nicht um jeden Preis innovativ sein. Was neu ist und gut, wird sich durchsetzen. Das gilt auch für das Alte, das Vergessene. Das Publikum ist besser als sein Ruf. Aber vielleicht sollte man es denen, die nachwachsen, nicht unnötig schwer machen, die Schlüssel zum Verständnis der Opernwelt nicht im Labyrinth des Interpretierens verstecken. «Enthusiasmus» (siehe Iso Camartin) ist zuvörderst keine Sache des Intellekts. Und Liebe erst recht nicht.
Alexander Dick
Der 53-jährige Musikkritiker Alexander Dick studierte in Bayreuth. Er lebt seit 2001 in Freiburg im Breisgau
und ist Ressortchef Kultur/Magazin bei der «Badischen Zeitung».