Zufälle gibt es viele, aber selten fällt einem ein Blumentopf, der einen das Leben kosten könnte, knapp vor die Füsse. Zufall ist beides: Ob er fällt oder nicht, ob er trifft oder nicht. Von einem solchen Zufall, der leicht ein Unfall werden könnte, will ich nicht erzählen, obwohl es davon in unserem Leben Tausende gibt, von denen wir nichts wissen, weil wir von ihnen verschont bleiben; die allermeisten Blumentöpfe bleiben auf den Fenstersimsen, die meisten Autos halten vor dem Fussgängerstreifen, und wenn nicht, sind wir so geistesgegenwärtig, vor ihnen zurückzuweichen; wir werden also selten erschlagen oder überfahren, der Zufall rettet uns davor.
Ein Zufall, der eine glückliche Fügung ist, ist ein Moment des Wohlgefühls, das so lange im Gedächtnis haften bleibt, wie dieses es für nötig hält. Ein solcher ereignete sich kürzlich, als ich von Basel nach Berlin flog. Beim Gate fiel mir unter den Passagieren ein etwa 50-jähriger Mann auf, der ein Buch in der Hand hielt und stehend darin las, was heutzutage an sich schon bemerkenswert ist; auch ich hielt ein Buch in der Hand. Er las wie ich keinen dicken Fantasy-Schmöker, sondern etwas Schmales, Feines, dessen Titel ich jedoch nicht entziffern konnte. Ich erkannte auf der Rückseite des Covers immerhin die Zeichnung einer Gaslaterne, was mich auf Conan Doyle oder Edgar Allan Poe schliessen liess. Alle Achtung, dachte ich mir, ein Mann, der kein Sachbuch und keinen Ratgeber, sondern Literatur liest.
Der Zufall fügte es nun – und machte aus dem Zufall die glückliche Fügung, die so selten ist –, dass wir im Flugzeug nebeneinander zu sitzen kamen. Ich hatte also einen guten Blick auf das Buch, das er las, und mein Erstaunen war gross, als ich feststellte, dass es sich dabei um Auszüge aus den Tagebüchern der Brüder Jules und Edmond de Goncourt handelte, zusammengestellt von einem mir unbekannten Autor. Zufall und glückliche Fügung, denn ich hatte wenige Tage zuvor begonnen, einen Roman über das unzertrennliche Brüderpaar zu schreiben, mit dem ich mich erstmals 2014 befasst hatte, als die Übersetzung der ungekürzten Tagebücher der illustren Chronisten des Pariser Gesellschafts- und Geisteslebens der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erschien. Seither hatten sie mich nie mehr ganz losgelassen – nicht allein ihrer indiskreten Aufzeichnungen wegen, vor deren vollständiger Veröffentlichung sich ihre Mitmenschen (und deren Nachkommen) so sehr gefürchtet hatten, dass einige gerichtlich dagegen vorgegangen waren. Anders als von Edmond de Goncourt verfügt, erschien die unzensierte Gesamtausgabe denn auch nicht 20, sondern erst 60 Jahre nach seinem Tod; aus juristischen Gründen übrigens nicht in Frankreich, sondern in Monaco und gewiss zufälligerweise im selben Jahr, da Grace Kelly zur monegassischen Landesfürstin Gracia Patricia avancierte.
Ausser Dichtern – Flaubert, Maupassant, Zola zum Beispiel – sind die meisten Adeligen, Politiker, Schauspielerinnen, Dramatiker und Journalisten, über deren Denken und Treiben Jules und Edmond de Goncourt so akribisch wie unverblümt Buch führten, inzwischen vergessen.
Bleiben die Brüder selbst, der jüngere Jules, der 1870 starb, und Edmond, der ihn um ein Vierteljahrhundert überlebte. Obwohl Edmond für unleugbare Wahrheiten üblicherweise alles andere als blind war, hielt er an seiner Überzeugung fest, Jules sei an geistiger Überanstrengung gestorben, «an der Arbeit und Sorge, die richtige Form, den richtigen Stil zu finden». Dass sein früher Tod im Alter von 39 Jahren mitnichten literarische Ursachen hatte, wollte oder konnte sich der sonst so unbestechliche, unsentimentale Mann nicht eingestehen. Jules starb nicht an der Vervollkommnung seines Stils, sondern an den Folgen einer Syphilisinfektion; das letzte Stadium, die progressive Paralyse, führte zu einer schnell fortschreitenden Demenz und endete mit dem Tod im Haus der Brüder im legendären «grenier». Dort versammelte sich einige Jahre später regelmässig sonntags der Freundeskreis um Edmond, aus dem sich die erste Jury des Prix Goncourt zusammensetzte, den 1903 erstmals der heute vergessene John-Antoine Nau und 16 Jahre später der heute umso berühmtere Marcel Proust erhielt.
Der Leser, der neben mir im Flugzeug sass und den anzusprechen ich mich nicht zurückhalten konnte – «Was für ein Zufall, hier sitzt ein Mann, der ein Buch der Goncourts liest, über die ich gerade einen Roman schreibe!» –, kannte das Leben der Brüder zwar nicht so gut wie ich, doch über die Literatur des 19. Jahrhunderts und deren Protagonisten wusste er mindestens so gut, wenn nicht besser Bescheid. Er hatte Gustave Flauberts Briefwechsel mit George Sand, Iwan Turgenjew und den Goncourts, die Tagebücher Saint-Simons, Alexander Herzens und Harry Graf Kesslers gelesen. Anders als ich vermutete – ich hielt ihn für einen Fachmann –, hatte er allerdings mit Literatur nichts weiter zu tun, als dass er sie liebte und offenbar wie die Luft zum Leben brauchte. Im Hauptberuf war er Jurist und lebte in Lausanne. Den Beruf übe er aus, um sich alle Bücher leisten zu können, die er brauche, sagte er halb scherzhaft, halb im Ernst.
Diesmal verging der 70-minütige Flug tatsächlich wie im Flug, so angeregt unterhielten wir uns über alles Mögliche rund um das Leben der Goncourts, über ihre Bücher (auch Romane), das gemeinsame Zusammenleben und zweihändige Schreiben, jenes unsichtbare Band, das durch den frühen Tod des von Edmond über alles geliebten Jules so gewaltsam zerschnitten wurde, was ihn monatelang verstummen liess; erst die Belagerung von Paris riss Edmond aus seiner Lethargie und zwang ihn an den Schreibtisch zurück, wo er seine Arbeit als Berichterstatter des Ausnahmezustands wieder aufnahm.
Unsichtbar, aber zum Greifen nah war auch das Band, das mich mit dem Unbekannten, von dem ich nicht einmal weiss, wie er heisst, in diesem Augenblick des Zufalls verband: gewebt aus der Literatur, den Autoren, die sie schrieben, den Zeitgenossen, über die sie schrieben, dem Jahrhundert, in dem sie lebten, den Büchern, die davon Zeugnis ablegten, der Macht des geschriebenen Worts.
Alain Claude Sulzer
Der Autor wurde 1953 in Riehen bei Basel geboren und lebt heute als Schriftsteller in Basel und Berlin. Alain Claude Sulzer hat zahlreiche Romane veröffentlicht, die in etliche Sprachen übersetzt wurden. Für sein Werk erhielt er Preise wie den Prix Médicis étranger, den Hermann-Hesse-Preis und den Kulturpreis der Stadt Basel. Zuletzt ist im Galiani Verlag «Unhaltbare Zustände» erschienen.