Eigentlich war Liszt nicht das, was man unter einem Touristen versteht, dazu war er in der Schweiz zu lange ansässig. Er hatte sich mit seiner Geliebten Marie d’Agoult, die bald das erste gemeinsame Kind bekommen würde, 1835 in Genf niedergelassen, wo man Paris am nächsten war, zumindest sprachlich, zugleich auch weit genug davon entfernt, um Gras über den Sturm der Entrüstung wachsen zu lassen, den die Liebesgeschichte zwischen ihm und der um sechs Jahre älteren verheirateten Adeligen in der Hauptstadt provoziert hatte.
Der Skandal, der auch den Genfern nicht entgangen war, liess sich in der calvinistischen Hochburg offenbar besser erdulden als im klatschsüchtigen Paris, wo sich die beiden 1833 kennengelernt hatten. Die 28-jährige Marie – von der behauptet wurde, unter sechs Fuss Eis brodelten zwanzig Fuss Lava – hatte sich auf der Stelle in den 22-jährigen Virtuosen mit den meergrünen Augen und dem tastend schwebenden Gang verliebt. Auch in Genf erlag man dem Charme des prominenten Liebespaars.
Binnen kürzester Zeit standen den beiden die Türen der besseren Gesellschaft offen. Liszt war zu gefragt und beide zusammen viel zu glamourös, um ignoriert werden zu können. Nachdem Liszt angeboten hatte, seine Dienste dem neu gegründeten Konservatorium kostenlos zur Verfügung zu stellen, waren die letzten Steine zur gesellschaftlichen Anerkennung aus dem Weg geräumt.
Das unschöne Ende der romantischen Liaison, die in einer literarisch zweifelhaften Abrechnung Marie d’Agoults in Romanform unter Pseudonym mündete, war in Genf nicht abzusehen, auch wenn es Marie bereits damals einige Anstrengungen kostete, die Frauen, die Liszt umschwärmten, nicht als Bedrohung zu betrachten. Während Franz Liszt, den man in Frankreich François Litz nannte, seine mehr oder weniger begabten Schüler und Schülerinnen unterrichtete, war Marie damit beschäftigt, sich einen Freundeskreis zu schaffen.
Man besuchte Gesellschaften, bei denen der Virtuose kaum umhinkam, sich ans Klavier zu setzen; da er ein höflicher Mensch war, lehnte er nur selten ab. Bei Tisch setzte er dauernd sein Augenglas auf und ab, ass wenig, trank noch weniger und mochte am liebsten Kartoffeln. So jedenfalls notierte es die junge Genferin Albertine de la Rive-Necker in ihr Tagebuch. Der stets gut gekleidete Liszt habe «entzückende Hände. Am Zeigefinger trägt er einen Ring, auf dem ein silberner Totenkopf in Gold gefasst eingelassen ist.
Seine schönen blonden Haare fallen bis auf die Schultern und sind nur wenig gekräuselt. Häufig streicht er sie hinter die Ohren zurück, als ob er Gefallen an dieser Bewegung fände». Nicht weniger erfrischend und authentisch als solche unredigierten Aussagen von Zeitgenossen sind die vom Zahn der Zeit kein bisschen angenagten Notizen, die Liszt sich über die Qualitäten seiner Schülerinnen in einem «Klassenbuch» machte; über die männlichen Schüler hat er sich nicht ausgelassen.
Letztere missfielen ihm so sehr, dass er der Direktion des Konservatoriums empfahl, sie allesamt in die Wüste zu schicken. Es lag gewiss an seiner Unzufriedenheit mit seinen Schülern, dass er seine Lehrtätigkeit bereits nach kurzer Zeit an den Nagel hängte. Hinterlassen hat er Einschätzungen wie diese über seine Lieblingsschülerin Julie Raffard: «Sehr bemerkenswertes musikalisches Gefühl. Sehr kleine Hände. Glänzender Vortrag. Ungewöhnlich befähigt.»
Gnädig, aber nicht enthusiastisch fällt das Urteil über Pélagie Darier aus: «Sauberes Spiel, gute Tonbildung. Tadelloses Benehmen; ist fähig, Unterricht zu erteilen.» Über Amélie Calame, die Ehefrau des berühmten Landschaftsmalers Alexandre Calame: «… hat hübsche Finger; arbeitet fleissig und sehr sorgfältig, fast zu sehr.» Auch sie «ist fähig, zu unterrichten». Zur Sache kam er bei Marie Demelleyer: «Liederliche Schulung (wenn überhaupt Schulung), äusserst eifrig, mittelmässige Anlagen.
Gesichterschneiden und Verrenkungen. Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den Menschen mit gutem Willen.» Beim Verdikt über Ida Milliquet kündigte schon der Herkunftsort der Schülerin das folgende Aus an: «Genfer Künstlerin! Schlaff und mittelmässig. Ganz gute Finger. Ganz gute Haltung am Klavier. Genug Gutes, was im Ganzen nicht viel bedeutet.»
So viel zu den Schülerinnen, bevor wir zu Franz Liszt zurückkehren, über dessen Auftritte literweise Tinte vergossen wurde, die auch in getrockneter Form an schiefen Bildern oft kaum zu überbieten ist. Nur selten vermitteln diese Schilderungen eines entweder vergötterten oder dämonisierten, jedenfalls abgehobenen Genies einen nachvollziehbaren Eindruck seines Auftretens oder gar Spiels. Schon gar nicht, wenn das in metrischer Form versucht wurde, wie es ein anonymer Lyriker im Genfer «Fédéral» tat.
Liszt am Klavier
(…) Er präludiert, horcht, Freunde, sammelt Euch!
Beseelten Fingern folgt die Tastatur,
Belebt sich, lässt ertönen eine Sprache nur,
Beredt, voll Leidenschaft, – zum Herzen dringend
Und von Herzen kommend (…)
Das Instrument erzittert unter seinen Händen
Und es entfesselt hörig dem Genie,
einen Gewittersturm der Harmonie. (…)
Ich weiss nicht, was ich höher preisen soll,
Liszt anschau’n oder lauschen ihm hingebungsvoll.
Mitte Oktober 1836 verliessen Franz und Marie Genf und damit einen Ort, an den sie fast nur gute Erinnerungen behalten sollten.
Zur Person
Alain Claude Sulzer wurde 1953 geboren und lebt als freier Schriftsteller in Basel, Berlin und im Elsass. Er hat etliche Romane veröffentlicht, darunter «Ein perfekter Kellner», «Zur falschen Zeit», «Aus den Fugen» und zuletzt «Doppelleben» (2022). Seine Bücher sind in zahlreiche Sprachen übersetzt. Für sein Werk erhielt er unter anderem den Prix Médicis étranger, den Hermann-Hesse-Preis und den Kulturpreis der Stadt Basel. Er ist Mitbegründer des Festivals LiedBasel.