«Ihm wäre es lieber gewesen, wenn sich jemand anderes darum gekümmert hätte, damit fertig geworden wäre.» So abrupt beginnt A.L. Kennedys Geschichte «Nach Hause». Kryptische Anfangssätze sind ein Markenzeichen der britischen Autorin. Sie versetzt ihre Leser direkt ins Geschehen hinein, in die Gefühlslage ihrer Protagonisten – und lässt sie danach lange im Dunkeln tappen. Was den Protagonisten Mike in dieser Erzählung so sehr plagt, kristallisiert sich gegen Ende heraus: Er wünscht sich zurück in seine Kindheit, als sich jemand um ihn gekümmert hatte. Denn als Erwachsener steht er alleine da; in einer halbleeren Wohnung, die er räumen muss.
Zwischentöne
Erinnerungen tauchen auf an vergangene Zeiten, als er mit seiner geliebten Maggie die Wände neu gestrichen hatte – beschwingt von der Liebe und der Musik aus dem CD-Player. In den letzten Sätzen der Erzählung offenbart sich die tragische Wende in Mikes Leben, als seine Geliebte krank wurde, von den Ärzten als «nicht ganz richtig» eingestuft: «Und danach kam das Böse. Nacht. Und ich kann es nicht ertragen. Ich kann es nicht. Darum verlasse ich die Wohnung.»
A.L. Kennedy ist eine Meisterin der Zwischentöne. Mit wenigen Strichen weckt sie die Neugierde der Leser. Alles beginnt im Ungefähren, die Leser müssen sich an die Figuren herantasten. Die Erzählperspektiven wechseln so schnell wie die Stimmungslage der Protagonisten. Durch den inneren Monolog zeigen sich die Konflikte der Figuren: Im Gedankenstrom tauchen ihre Wünsche, Begierden, Erinnerungen auf. A.L. Kennedy zu lesen, gleicht der Betrachtung eines 3-D-Bildes: Aus der Unschärfe tritt langsam eine Gestalt hervor.
Indem A.L. Kennedy die Paarbeziehungen regelrecht seziert, führt sie dorthin, wo es schmerzt. Etwa in der titelgebenden Erzählung «Der letzte Schrei»: «Mark hätte nie gedacht, er würde mal in Betracht ziehen, sich vor einen Zug zu werfen. Wie sich herausstellte, lag er damit falsch», beginnt die Erzählung wie gewohnt mit einem Paukenschlag. Er steht mit seiner Frau auf einem Bahngleis und wartet auf einen verspäteten Zug. Während die Züge vorbeirauschen wie «eine Illusion von Sehnsucht», schweifen seine Gedanken ab zu seiner Geliebten: die halb so alte Emily.
Riss im Leben
Nach und nach zeigt sich der tiefe Riss in seinem Leben: Gegen aussen der gepflegte, höfliche Mittvierziger, innerlich der Mann mit geheimen Begehren: «Er wollte sie nicht schlagen, er konnte nur den verzweifelten Wunsch nicht abschütteln, sie zu zeichnen.» Durch Emily sind seine dunklen Seiten erwacht. Er hat versucht, ihr nahe zu sein – und ist gescheitert. Und die Beziehung zu seiner eigenen Frau ist geprägt von gegenseitiger Verachtung; so eingefahren, dass er sich auf dem Bahngleis bereits die nächste sexuelle Projektionsfläche aussucht.
In der ganzen Düsternis tritt aber immer wieder der schräge Humor der 49-jährigen Autorin, die zuweilen als Stand-up-Comedian auftritt, zum Vorschein. So hat etwa die Erzählung «Baby Blue», in der eine einsame Frau aus Versehen im Sex-Shop landet und von einer aufdringlichen Verkäuferin beraten wird, bei aller Schwere auch Komikpotenzial. Doch weder eine futuristische Penis-Imitation noch Sextools mit Schokoladengeschmack vermögen das Leid der Ich-Erzählerin zu mindern.
Verlorenheit und Wut
«All the Rage» heisst Kennedys Erzählband im Original. Wut ist oft das vorherrschende Gefühl ihrer Figuren. «Ungestörte Wut ist mein ständiger Begleiter», lässt sie die Sex-Shop-Besucherin sagen. Es ist der Zorn über ihre eigene Einsamkeit sowie über ihre Situation kurz nach einer schweren Unterleibsoperation und einer Trennung, wie die Leser am Ende erfahren. Kennedys Protagonisten sind gezeichnet vom Leben. Die vergangenen oder aktuellen Beziehungen heben ihre Verlorenheit nicht auf – im Gegenteil.
Buch
A.L. Kennedy
«Der letzte Schrei»
Aus dem Englischen von Ingo Herzke
208 Seiten
(Hanser 2015).
Radio SRF 2 Kultur
Sa, 16.5., 20.00
Corina Caduff, Andreas Nentwich und Heini Vogler in der Sendung «52 beste Bücher» im Gespräch über Kennedys neues Buch