A.L. Kennedy - Das Blaue vom Himmel lügen
Die schottische Schriftstellerin A.L. Kennedy erzählt die Geschichte eines betrügerischen Liebespaars – mit vielen Wahrheiten und noch mehr Lügen. «Das blaue Buch» bietet eine grossartige Leseerfahrung.
Inhalt
Kulturtipp 21/2012
Rolf Hürzeler
Die junge Engländerin Beth ist eine begnadete Lügnerin vor dem Herrn. Ebenso wie ihr geheimer Liebhaber Arthur. Also belügen sie alle, sich selbst und den Leser.
Aber halt! Der Reihe nach. Beth fährt mit ihrem aktuellen Gefährten Derek auf einem Passagierdampfer von England nach New York. Beim Einstieg wird sie von einem Unbekannten angerempelt. Sie kennt ihn angeblich nicht, kommt nach dem Zwischenfall aber von der Rolle. Der Leser bangt um das Liebesgl&u...
Die junge Engländerin Beth ist eine begnadete Lügnerin vor dem Herrn. Ebenso wie ihr geheimer Liebhaber Arthur. Also belügen sie alle, sich selbst und den Leser.
Aber halt! Der Reihe nach. Beth fährt mit ihrem aktuellen Gefährten Derek auf einem Passagierdampfer von England nach New York. Beim Einstieg wird sie von einem Unbekannten angerempelt. Sie kennt ihn angeblich nicht, kommt nach dem Zwischenfall aber von der Rolle. Der Leser bangt um das Liebesglück von Beth und Derek.
Leser als Komplize
Zu Recht, und doch ist alles falsch, wie sich schnell herausstellt. Der Unbekannte Rempler ist Arthur. Mit ihm teilte Beth eine intensive Liebschaft und eine lange Berufskarriere. Die zwei vermittelten bei Bühnenauftritten den Zuschauern Kontakte ins Jenseits zu ihren toten Angehörigen, am liebsten berichteten sie trauernden Eltern von ihren frühzeitig verstorbenen Kindern. Für diese Scharlatanerie liessen sich Beth und Arthur fürstlich bezahlen. Wer lässt nicht schon gerne Geld springen, um das Endgültige erträglicher zu machen?
Es kommt, wie es kommen muss. Beth wirft sich ihrem Arthur erneut in die Arme. Der Seekrankheit sei dank liegt Gefährte Derek derweil darnieder; Beth hilft seinem Leiden etwas nach, indem sie ihm die lindernden Medikamente vorenthält.
Die Britin A.L. Kennedy zieht den Leser gleich von Beginn weg mit ins «blaue Buch» rein. Schon mit dem ersten, ungewöhnlichen Satz: «Aber hier ist es, das Buch, das du liest.» So gehört man dazu, ist schnell einmal Komplize des betrügerischen Paars. Und man spielt gerne mit, denn die beiden sind zwar verrückt, aber dennoch sympathisch, streckenweise moralisch sogar vorbildlich. Etwa wenn sich Arthur bei Beth über die Ungerechtigkeit der britischen Gesellschaft gegenüber Asylbewerbern empört: «Sie sind die Schwächsten der Schwachen, darum stecken wir sie in den Knast …» Wer wagt da zu widersprechen?
Unbequeme Autorin
A.L. Kennedy ist eine unbequeme Frau. Die 47-jährige Schriftstellerin ist eine prononciert linke Aktivistin, die sich etwa mit ihrem Engagement gegen den Irak-Krieg exponierte. Die aktuelle Regierung unter dem Konservativen David Cameron ist ihr ein Gräuel. Kennedy gibt sich auch im privaten Umgang nicht einfach. Sie kann stundenlang über ihre Krankheiten reden, und sie hat fast ständig Gebresten («Mageninfektion»). Sie leide unter dem Schreiben, wie sie immer wieder bekundet, tut aber nichts anderes, als zu schreiben.
Man ist also gut beraten, dieser Autorin mit Vorsicht zu begegnen. So auch in diesem Buch, in dem der Leser mit den Lügen auf den ersten Seiten ja vorgewarnt ist. Am Schluss kommt alles sogar knüppeldick. Und man begreift erst, welch eine abgrundtiefe Lügnerin Beth tatsächlich ist.
Die Beziehungskrisen in diesem Buch sind typisch für A.L. Kennedy; wie in ihrem letzten Roman «Day», in dem die gestörten Beziehungen im Kriegsmilieu spielen. Kennedy versteht es meisterhaft, menschliche Charaktere in einem ungewöhnlichen Umfeld zu sezieren, wie ihr dies im «blauen Buch» wiederum gelungen ist: So wirken die beiden Schwindler Arthur und Beth unter anderem deshalb so stark, weil der Dritte, Derek, nur blass und skizzenhaft erscheint.
Ein seekranker Langeweiler eben, der höchstens das Zeug zum Weltrekordhalter im Erbrechen hat.
A.L. Kennedy
Sie ist eine der wichtigsten britischen Schriftstellerinnen: Alison Louise (A.L.) Kennedy kam 1965 im schottischen Dundee zur Welt. Sie studierte Theaterwissenschaft und Schauspiel. Neben Gelegenheitsjobs versuchte sie sich als Puppenspielerin für Kinder. Hin und wieder tritt Kennedy als Stand-up-Komödiantin auf der Bühne auf. Daneben arbeitet sie fürs Fernsehen, schreibt regelmässig Hörspiele und verfasst für die Tageszeitung «Guardian» kritische Kolumnen. Kennedy ist zudem Teilzeitdozentin der Warwick University. Sie lebt in London.
[Buch]
A.L. Kennedy
«Das blaue Buch» 363 Seiten
(Hanser 2012).
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