Bei einem Erdbeben vor drei Jahren sind in der chinesischen Provinz Sichuan rund 70 000 Menschen ums Leben gekommen. Tausende davon waren Schulkinder, begraben unter den Trümmern billig gebauter Schulhäuser (Bild oben). Was die Regierung in Peking unter den Tisch wischen wollte, brachte einer ans Licht, der den Wandel Chinas hin zum skurrilen Musterschüler des westlichen Turbokapitalismus mit Akribie und Radikalität beobachtet: Ai Weiwei. Der Künstler publizierte eine Liste von 5385 Namen – mehr noch: In Erinnerung an die vergessenen Kinder nagelte er ein Jahr später 9000 Schulrucksäcke ans Haus der Kunst in München.
Mit Aktionen wie dieser wurde Ai Weiwei – aktiv auch als Fotograf, Filmer, Architekt, Bildhauer, Blogger und Twitterer – zum internationalen Kunst- und Medienstar. Das Regime in Peking freilich sah in ihm einen Aufwiegler, schickanierte und drangsalierte ihn. 2010 liess es Ais neues Kunstzentrum in Schanghai plattwalzen – was Ai filmte und ins Internet stellte. Vor knapp zwei Monaten dann wurde Ai am Pekinger Flughafen verhaftet.
Erste grosse Fotoschau
Noch Anfang dieses Jahres freuten sich hierzulande zwei Ausstellungsmacher auf eine Zusammenarbeit mit dem chinesischen Künstler. Urs Stahel, Direktor des Fotomuseums Winterthur, plante eine erste grosse Ausstellung mit Ais Fotos und Videos. In Luzern arbeiteten zeitgleich Peter Fischer, Direktor des Kunstmuseums, und Uli Sigg, weltweit bedeutendster Sammler chinesischer Kunst, an einer Schau zur chinesischen Gegenwartskunst. Beide Häuser standen in regem Kontakt mit Ai, der von Peking aus Impulse gab: In Winterthur als Künstler, in Luzern als Co-Kurator.
«Ich finde ganz unbescheiden, dass diese Ausstellung Bedeutung hat», mailt Uli Sigg aus dem Irgendwo zwischen Peking und Luzern zur Schau «Shanshui», die in Luzern chinesische Gegenwartskunst im Spiegel historischer Landschaftsmalerei zeigt. «Das Publikum für zeitgenössische Kunst in der Schweiz kennt diese Tradition nicht.» Seine Kollegen in Winterthur, so Sigg, zeigten «Ais Fotoarbeiten gerade auch aus der New Yorker Zeit, die noch nie in dieser Breite ausgestellt wurden».
Von 1981–1993 lebte Ai Weiwei, der 1957 in Peking geboren wurde, in den USA. Nach seinem Filmstudium bildete er sich dort in Design weiter und entdeckte anhand der Werke der Konzeptkünstler Jasper Johns, Andy Warhol und Marcel Duchamp die Alltagsbezogenheit von Kunst. Ai schuf eigene Werke und Tausende von Fotos.
Das Fotomuseum Winterthur zeigt Arbeiten aus dieser Zeit: Stadtansichten, Porträts, Bilder von Armut oder Polizeigewalt. Auch spätere Werke wie «Earthquake» über die erwähnten Schulkinder, «Provisional Landscapes» über Baubrachen in chinesischen Städten oder «Bird’s Nest» über das Olympia-Stadion der Basler Architekten Herzog & de Meuron (Bild oben), denen Ai als Berater zur Seite stand.
Herausragende Figur
Urs Stahel, Direktor des Fotomuseums, will Ai als Kommunikator zeigen, der sich zum Netzwerker entwickelt, deshalb der Titel «Interlacing». «Jede Gesellschaft braucht herausragende Figuren wie Ai Weiwei, um wachgerüttelt zu werden», schreibt Stahel im Ausstellungskatalog.
«Ais Arbeiten haben konzeptuelle Tiefe, die Ost und West zu erreichen vermag», beschreibt Uli Sigg Ais Bedeutung als Künstler. «Sie zeugen von einer Radikalität im Denken und Handeln, die in unserer Zeit ihresgleichen sucht.» Keine Frage, dass Ai auch in der Luzerner Ausstellung «Shanshui» vertreten ist, die nicht zufällig parallel zu jener in Winterthur stattfindet. Man habe auf Ai Rücksicht genommen, der an beiden Orten hätte erscheinen sollen, schreibt Uli Sigg. Denn an sich habe Ai für 2011 einen gedrängten Reiseplan.
Das Kunstmuseum in Luzern zeigt 70 Werke zeitgenössischer chinesischer Künstler aus Uli Siggs Sammlung. Alle nehmen Bezug auf die Kunst des Shanshui, der Landschaftsmalerei mit 1500-jähriger Tradition. Dies mittels unterschiedlicher Medien und im Versuch, die philosophische Dimension dieser Kultur in der Gegenwart festzumachen. Ai Weiwei ist in Luzern mit einer Porzellan-Welle (Bild oben rechts) von 2006 vertreten, dem Video «Changan Avenue» sowie Fotoarbeiten aus «Provisional Landscapes».
Laut Uli Sigg vermittelt die Ausstellung «über die Kunst hin-aus Einsichten in das China von heute». Ein Ziel, das der 65-jährige Luzerner seit Jahren mit seiner Tätigkeit als Sammler und Netzwerker verfolgt. Mit Ai Weiwei sei er seit bald 20 Jahren befreundet, mailt Sigg. «Ich habe ihn 1999 an Harald Szeemanns Biennale di Venezia gebracht.» Was die Basis zu Ais internationalem Renomée legte.
Die Ausstellungen in Winterthur und Luzern werden ohne Ai Weiwei stattfinden. Uli Sigg: «Wann Ai wieder wird reisen können, hängt vom Verfahren ab, das juristisch gesehen nicht mal seinen Anfang genommen hat. Vorerst ist er einfach weggeschlossen und wird verhört.» Vor wenigen Tagen erhielt Ai zwar einen Kurzbesuch seiner Ehefrau Lu Qing. Doch das Verfahren, so Sigg, dürfte noch Monate dauern. Daran wird auch der Umstand nichts ändern, dass Ai Weiwei am 7. Mai zum Mitglied der Berliner Akademie der Künste ernannt wurde.