«Nie mehr sollte ich die Frau, die ich liebte, küssen, meine Kinder umarmen, mich mit meinen Freunden treffen, in den Strassen herumlaufen können. Keine Violinkonzerte, Reisen, kein Wein. Stattdessen Befehle: ‹Bleib stehen!›, ‹Geh los!›, ‹Komm herein!›» Diese Zeilen schreibt der türkische Publizist Ahmet Altan in seinem epischen Werk «Ich werde die Welt nie wiedersehen – Texte aus dem Gefängnis». Dabei hatte ihn der Richter ermahnt: «Hätten Sie doch einfach immer nur Romane geschrieben und sich nicht mit politischen Themen befasst.» Doch Altan ist ein politischer Mensch, einst war er Chefredaktor der liberalen und umstrittenen Tageszeitung «Taraf». Er hat aber vor allem mit seinen Liebesromanen ein Millionenpublikum erreicht.
Zielscheibe der Regierung
Ahmet Altan und sein Bruder Mehmet, ein Wirtschaftsprofessor, gehören zu den wichtigsten Kritikern der Regierung von Recep Tayyip Erdogan – und werden damit regelmässig zu deren Zielscheibe. Die aktuel-len Vorwürfe gegen die beiden Brüder: Sie sollen unmittelbar vor dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 in einer Talkshow «unterschwellige Botschaften» verbreitet haben.
Dies und einige Zeitungsartikel reichten aus, um die Altans im Februar 2018 zu «erschwerter», lebenslanger Haft zu verurteilen. «Ich wusste, dass ich lebenslänglich bekommen würde. Trotzdem spürte ich den betäubenden Schlag des Moments, mit dem die Hoffnung erlosch», schreibt Altan. Sein drei Jahre jüngerer Bruder Mehmet befindet sich wieder auf freiem Fuss, während Ahmets Urteil im Oktober von einem Revisionsgericht bestätigt wurde.
Das Buch «Ich werde die Welt nie wiedersehen» gibt den über 150 Journalisten hinter türkischen Gittern ein Gesicht. Der titelgebende Essay ist Altans wichtigster Text: eine erschütternde und authentische Schilderung der politischen Hexenjagd unter dem jetzigen Staatspräsidenten Erdogan. Der 68-jährige Autor beschreibt Gerichtspräsidenten, die sich darüber beschweren, dass sie wegen langer Besprechungen von Urteilen ihren Bus verpassen. Richter, die ahnungslos mit ihm einsitzen und denen Kollegen weinend beichten: «Wenn ich dich nicht festgenommen hätte, wäre ich dran gewesen.»
Altan sitzt im Hochsicherheitsgefängnis Silivri ausserhalb von Istanbul – mit Dutzenden anderen Oppositionellen. Er fühlt sich wie «ein identitätsloses Menschengemenge», dem sein eigener Anblick geraubt wurde. «Allein durch die Entfernung der Spiegel hatte man uns aus dem Leben fortgewischt.» Ein Mitinsasse riet ihm: «Sie müssen die Aussenwelt vergessen, sonst wird es hier für Sie sehr schwierig.» Ein guter Ratschlag, konstatiert Altan: «Doch die Sehnsucht lässt sich nicht vergessen. Du kannst das Leben vergessen, doch nicht die Menschen.»
Aufwühlende Übersetzungsarbeit
Übersetzt wurde der Essay von Ute Birgi-Knellessen, einer gebürtigen Deutschen, die seit 1980 in Luzern lebt. Sie hatte schon zuvor Texte von Ahmet Altan übersetzt, aber diese Arbeit habe sie physisch und emotional sehr gefordert. «Doch die Qualität und Eindringlichkeit der einzelnen Texte haben mich noch während der Arbeit immer wieder gefesselt und mich in meiner Entscheidung bekräftigt», sagt sie. Ihr sei klar gewesen, dass sie sich mit dieser Übersetzung exponiere. Aber sie habe hier unmöglich kneifen können, «auch wenn ich auf meine gewohnten mehrwöchigen Aufenthalte in der Türkei vorläufig verzichten muss».
Buch
Ahmet Altan
Ich werde die Welt nie wiedersehen – Texte aus dem Gefängnis
(S. Fischer Verlag 2018)