Wenn Adolf Muschg schreibt, schreibt er viel. Sein neuer Roman «Die japanische Tasche» ist fast 500 Seiten lang. Dabei, sagt er, habe er nur zwei persönlich einschneidende Ereignisse literarisch verarbeiten wollen, die ihm selber widerfahren sind. Eine kurze Geschichte ursprünglich, die sich zu einem umfangreichen Roman verselbständigt habe. Quasi ein Roman wider Willen.
Verlust und Angst
Die beiden Erlebnisse sind: der Messerangriff eines jungen Rumänen am Rande des Historikerkongresses 2006 in Konstanz und der Diebstahl der geliebten Tasche, einem Geschenk seiner Frau aus Japan, 2009 im Zürcher Hauptbahnhof. Beides widerfährt auch Beat Schneider, dem etwas schrulligen und nur knapp lebenstauglichen Protagonisten im Roman. Und ein Stück weit das Alter ego des Autors: Es steckt viel Muschg in Schneider – oder wie Muschg es in einem Interview formulierte: «In mir steckt viel von Schneider.»
Dieses Viele hat mit Verlust und Vergänglichkeit zu tun. Mit der unvermeidlichen Angst, die sie von vornherein auslösen, und mit dem schmerzlichen Vakuum, das sie im Nachhinein hinterlassen. Muschgs Schreiben darüber ist ein Versuch, die Dinge und Menschen festzuhalten, Widerstand zu leisten gegen das Verschwinden. Damit einen das Vakuum nicht wegsaugt und in ein Loch des Vergessens zieht. Darum dreht sich alles in dem Buch, dagegen kämpfen alle darin auftretenden Figuren.
Schneider ist der personifizierte Verlust, als Waise aufgewachsen und allein in die Welt geworfen. Er ist eine Randfigur. Als Historiker mit einem Randgebiet seines Fachs beschäftigt und nach dem Diebstahl seiner Tasche seiner prekären Restidentität und seiner schriftlich festgehaltenen Gedanken verlustig. Aber auch als Mann, der eine behinderte Frau heiratet, sie in einer Anwandlung unerwarteter Verlustangst schlägt und so erst recht verliert. Letztendlich geht sich Schneider selber verloren. Doch die Welt existiert weiter. Genauso, wie die Welt nach Muschg weiter existieren wird.
Fröhlich-fatalistisch
Dem Roman haftet eine seltsam heitere Melancholie an, weil er zwar minutiös das Verschwinden von Menschen und Dingen beschreibt, dies aber in einer fatalistischen, fast fröhlich undramatischen Art.
Der neue Muschg ist eine angenehme Lektüre, mit ebenso viel Ernst wie untergründigem Humor, und fast ohne die in den vorherigen Romanen peinlich explizit aufscheinenden Altmänner-Sexfantasien. Der Anfang des Romans zieht rein: Genüsslich breitet Muschg absurde Begegnungen aus. Ein unplanmässiger Zugstopp wegen eines sogenannten «Personenunfalls» in der deutschen Pampa führt die Passagiere in nur scheinbar unwahrscheinlichen Kombinationen zusammen. Genau beobachtet ist das, die Sprache ist flüssig, direkt und klar.
Doch Muschg wäre nicht Muschg, wenn er diese einfache Klarheit über die Länge durchhalten würde. Er ist und bleibt ein versessener Stilist, der gedanklichen Tiefgang mit überkomplexen und mehrfach um die eigene Achse gedrechselten Sätzen verwechselt. Das ist schade. Es bremst die Leselust, die einen über lange Strecken mitreisst, immer wieder abrupt ab. Dann dauert es eine mühsame Weile, bis man wieder in Fahrt kommt, und man verflucht das Hindernis, das den Elan gebrochen hat. Muschg tut dies nicht mutwillig, er kann nicht anders. Seine Gedanken in einfache Sätze zu packen, kommt für ihn nicht infrage. Nicht beim Reden, noch weniger beim Schreiben.
Buch
Adolf Muschg
«Die japanische Tasche»
484 Seiten
(C.H. Beck 2015).