Der Grand Old Man der Schweizer Literatur, Adolf Muschg, wendet sich wieder einer weiter zurückliegenden Vergangenheit zu. Und sich selber. Denn Hermann von Löwenstern, Protagonist in seinem neuen Buch «Löwenstern», ist auch Adolf Muschg selber. Löwenstern, ein baltischer Baron mit wenig Geld und grosser Verwandtschaft, verdingt sich um die Jahrhundertwende vom 18. zum 19. als Seeoffizier in russischen Diensten und hat einen Traum – Japan sehen und entschlüsseln. Dieses Projekt verfolgt auch Muschg, mit einer Japanerin verheiratet, seit seinem ersten Studienaufenthalt in Japan und seinem ersten Roman «Im Sommer des Hasen».
Lustvoll fabulierend
Nach zweimal Zeitgeschichte (2008: «Kinderhochzeit»; 2010: «Sax») entwirft Muschg den geistigen Kosmos Europas in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts. Das kann der ehemalige ETH-Literaturprofessor. Lustvoll und sprachmächtig fabuliert er durch die Literatur- und Geistesgeschichte des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Kunstvoll und sogar augenzwinkernd lässt er Geistesgrössen über die Seiten wirbeln. So kommt Goethe zu einem Gastauftritt als Löwensterns Mentor. Muschg lässt ihn hessisch nuscheln, das ist erfrischend, lustig sogar. Peinlich hingegen ist, wenn er Goethe seine Autorenschaft quasi abtritt und den Löwenstern beschwatzen lässt, sich einer Japan-Expedition anzuschliessen und darüber einen Bericht zu verfassen.
Trotzdem, das liest sich zu Beginn recht flüssig und streckenweise mitreissend. Muschg lässt Löwenstern an der realen Weltumsegelung teilnehmen, die der deutsch-baltische Admiral Adam von Krusenstern im Auftrag des Zaren unternahm. Ebenso wie an der geschichtlich gleichfalls dokumentierten Expedition nach Japan, die mit der Gefangenschaft des Expedition-Anführers, des Offiziers und Wissenschaftlers Wassili Golownin, endet. In einer Art Abenteuer-Briefroman an eine imaginäre Exzellenz rapportiert Löwenstern präzise, faktenreich und überlegt seine Erlebnisse. Die Wörter rauschen dahin, man merkt kaum, wie und wo es weitergeht. Wir sind im Baltikum, dann an der Südküste Englands, auf dem Schiff nach Japan oder auch schon dort. Plötzlich nämlich hat man keine Ahnung mehr, wo die Geschichte gerade spielt, wer gerade wo ist, und wer was wo tut.
Viel Personal
Die Intrigen zwischen Kaufleuten und Militärs an Bord des Weltumseglerschiffs bleiben nur an der Oberfläche verständlich. Man hat den Eindruck, dem Autor selber sei die Übersicht abhandengekommen, er habe einfach munter weitergeschrieben, obwohl er längst den Faden verloren hat.
Zu viel Personal bevölkert die Seiten. Zu viel Geschichte auch. Grosse Verwirrung entsteht, wenn es um die komplexen Verhältnisse am russischen Zarenhof geht – wer war jetzt wessen Onkel, welcher Peter folgte auf welche Katharina, und wer soll jetzt wen umgebracht haben? Und wer hebt frühere Anordnungen auf und macht damit die Japan-Expedition erst möglich? Oder wars doch umgekehrt? Die Antworten auf alle diese Fragen sind zwar für die Geschichte nicht zwingend wichtig. Aber sie würden helfen, einige Bezüge zwischen Protagonisten auf dem Weg nach Japan zu klären. Aber Weglassung zwecks besserer Verständlichkeit war nie Muschgs Stärke.
Richtig kippt der Roman allerdings erst bei der Liebesgeschichte (laut Klappentext «im Zentrum des Romans») zwischen Löwenstern und einer mysteriösen Nadja. Offenbar eine – ehemalige? – Prostituierte, deren Konturen und Profil unscharf bleiben wie ihre Herkunftsgeschichte. Warum sie überhaupt auftritt, ist nicht schlüssig erklärbar. Ausser um Muschgs notorische literar-erotische Neigung zu befriedigen. Und hier wirds unangenehm.
Dann wirds banal
Sprachlosigkeit herrscht beim Sex, die Poesie fehlt, kein Vokabular, das ins Reich der Sinne entführen würde. Eben noch lasen wir originelle Sätze, die Bilder evozierten – jetzt heisst es, dass Löwenstern und Nadja «vögeln». Und wenn Muschg seinen Löwenstern das Genital den «Knecht» nennen lässt, ist das noch keine Literatur.
Dass sich Muschg wieder von der Zeitgeschichte ab- und der Historie zugewandt hat, ist schon mal gut. Er kann sich so nicht in erzwungenen Bedeutungshaftigkeiten verrennen, muss nicht mit dem Moralfinger fuchteln und verklausulierte Aktualität im Text so verstecken, dass man sie sicher findet. Schade bleibt, dass er die durchaus reizvolle Erzählperspektive und die wuchtige Sprache vom Anfang nicht bis ans Ende durchhält.
[Buch]
Adolf Muschg
«Löwenstern»
331 Seiten
(C.H. Beck 2012).
[/Buch]