Es ist ein schlichter Brief, der dem Leben des 62-jährigen Architekten Paul Neuhaus frischen Wind einhaucht: Der Bürgermeister von Yoneuchi bittet ihn um Unterstützung beim Aufbau einer Künstlerkolonie nahe des japanischen Unglücksmeilers Fukushima. Die Regierung wünscht sich eine Rückkehr der Weggezogenen. Denn an den olympischen Spielen in drei Jahren will sich Japan «sauber präsentieren, sonst bliebe das Publikum aus, und die sensiblen Athleten gingen erst gar nicht hin».
Die geöffnete Sperrzone als Kulisse für sein Buch Sieben Jahre nach dem Erdbeben in Japan, der damit ausgelösten Atomkatastrophe in Fukushima und dem Tsunami mit fast 20 000 Toten setzt sich Adolf Muschg mit der Tragödie literarisch auseinander. Die geöffnete Sperrzone mit der immer noch strahlenden Erde ist die Kulisse für sein Buch «Heimkehr nach Fukushima».
Hier kommen der Deutsche Paul und die Japanerin Mitsuko, die Frau eines alten Freundes, sich näher. Zwei Figuren, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten, die aber beide auf der Flucht vor der Vergangenheit sind. Er peinlich berührt von seinem Leben, das er als satter Erbe seines Grossvaters sorglos führen kann; sie gefangen in einer schwierigen Ehe.
«Das Auge des Sturms ist die ruhigste Stelle», sagt Muschg bei einem Treffen in einem Zürcher Café. «Die grössten Liebesgeschichten haben mit Katastrophen zu tun – das Unglück als Stachel. Mich hat es gereizt, zwei Leute mit einer abgebrannten Geschichte in ein unbewohnbares Gebiet zu versetzen.» Ununterbrochen läuft radioaktives Kühlwasser durch Fukushima: «Es ist ein Dauerzustand des Vergessens bei lebendigem Leib. Die Japaner versuchen, Fukushima zu verschleiern», sagt Muschg.
Warum hat er sich ausgerechnet diesen Schauplatz ausgesucht? «Für den Anstoss eines Romans brauche ich diese persönlichen Anknüpfungspunkte.» Tatsächlich ist der Autor mit dem Land der untergehenden Sonne aufs Engste verbunden. Seit Jahrzehnten beschäftigt er sich mit Japan, von 1962 bis 1964 war er Lektor für Deutsch an der International Christian University von Tokio, seine Frau ist Japanerin, er hat mehrfach über das Land geschrieben.
«Ich eigne mich nicht zum Heldentum»
Wie sein Protagonist Paul wurde Muschg selbst von einem japanischen Bürgermeister darauf angesprochen, ob er nicht eine Künstlerkolonie in der Sperrzone mitgestalten wolle. «Der lebt selbst im verstrahlten Gebiet, ein Überzeugungstäter», wundert sich Muschg und lehnte das Angebot ab. Den «Hilferuf des Bürgermeisters» habe er aber nicht ignorieren können und versuche nun, mit dem Roman sich «eines Auftrags zu entledigen».
Es gibt viele Bezeichnungen, die auf Muschg zutreffen: Dichter, Literaturwissenschafter, Essayist, streitbarer Intellektueller, chronischer Aufbegehrer, einer der profiliertesten Schweizer Denker – aber als was sieht er sich selbst? «All das sind Fremdbeschreibungen. Ich bin ein werdender und hoffender Mensch – das ist mit dem Alter noch ausgeprägter geworden.»
Bis heute mischt der im zürcherischen Männedorf lebende Autor sich in den gesellschaftlichen Diskurs ein. Hat er diese Lust, gehört zu werden und anzuecken, von seinem Vater? Dieser war ein religiöser Moralist, Redaktor beim «Zolliker Boten» und schrieb dort auch gegen das Frauenstimmrecht an. Oder treibt ihn das Gefühl, sich als Schriftsteller zu Wort melden zu müssen? «Ach», stöhnt er, «seit die Diskurse in Social Media übergegangen sind, fremdele ich mit dem Schlagabtausch.»
Seine Figuren seien seine Sündenböcke, erklärt Muschg. «Denen hänge ich an, was ich zu viel oder zu wenig gemacht habe.» Er selbst eigne sich nicht zum Heldentum. Im neuen Roman bleibt offen, ob Paul und Mitsuko den Mut zum Aufbruch in ein neues Leben haben.
Muschgs Wette mit den oberen Mächten
Diese Liebesgeschichte hätte in einer strahlenden Klischeehölle enden können. Fukushima als Folie für eine austauschbare Herzschmerz-Geschichte, in der das Unglück der zwei Protagonisten stellvertretend für das Unglück vieler steht. Doch Muschg umgeht diese Klischees. Und der Leser bleibt dran, weil er wissen will, wie die Geschichte der beiden endet.
Gelegentlich stellt Muschg aber eine zu aufdringliche Laborsituation her. Paul und Mitsuko werden von der Lektüre Adalbert Stifters begleitet. Der österreichische Autor gilt mit seinen Landschaftsbeschreibungen als Wegbereiter der Moderne. Stifter ist ein hochkomplexer Autor. Und die Textfragmente, die Muschg einfliessen lässt, führen nicht dazu, dass Stifters Schreiben zugänglicher wird – im Gegenteil. Wer sich nicht mit dieser Literatur auskennt, verliert rasch den Faden.
«Heimkehr nach Fukushima» dürfte Muschgs 50. Publikation sein. Das entscheidende Buch habe er noch nicht geschrieben, sagt er. Muschg weiss aber auch: «Das absolute Meisterwerk ist eine Fantasie.» Zurzeit arbeitet der Autor, der mit den Folgen einer Krebserkrankung kämpft, wieder an einem Manuskript. Er könne noch nicht fort, das Schreiben sei seine eigene Therapie: «Eine spitzbübische Lebensversicherung meinerseits. Ich will nicht abberufen werden, bevor das Buch fertig ist. Aber wenn etwas gut genug geworden ist, dann kann ich abtreten. Das ist meine Wette mit den oberen Mächten.»
Buch
Adolf Muschg
Heimkehr nach Fukushima
244 Seiten
(C.H. Beck 2018)