Ich war 16, und schlimmer hätte es nicht kommen können. Eben hatte ich an einem Gymnasium angefangen, das im Nachbarort lag, einem «ausgedehnten Haufendorf mit städtischem Gepräge», das zwei Jahre später dagegen stimmen sollte, zur Stadt zu werden. Der Ort war Durchschnitt, ein Non-lieu für Pragmatiker und Pendler. Und genauso fühlte sich auch die dortige Kantonsschule an. Um es dorthin zu schaffen, hatte ich mich im Frühjahr Tag für Tag stundenlang mit meinen Mathematikbüchern ins Badezimmer zum Lernen eingeschlossen.
Ich hatte nämlich Angst, dass mein Notenschnitt nicht für den Übertritt reichen würde. Erst recht, weil er bisher niemandem in meiner Familie gelungen war. Für mich war das Gymnasium die einzige Möglichkeit. In der sogenannt echten Welt würde ich keinen Tag bestehen, da war ich mir sicher. Dazu war ich zu ungeschickt, zu awkward und zu verträumt. Das Einzige, was ich konnte, war Bücher lesen und Videospiele spielen. Als ich Anfang Sommer erfuhr, dass meine Noten knapp reichten, kam es mir vor, als beginne nun mein Leben.
Ich würde die Klassiker der Literaturgeschichte lesen und über Philosophie debattieren. Vor allem aber würde ich mich unsterblich verlieben, neue Freundschaften schliessen, kurz: weit glücklicher werden, als ich es bis anhin gewesen war. Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne und so weiter. Doch bereits nach wenigen Tagen in der neuen Klasse merkte ich, dass alle anderen sich entweder von einer vorherigen Schule oder aus dem Turn-, Volleyball- oder Guggenmusikverein kannten und sofort die Reihen schlossen.
Die Cliquen standen schon fest, ehe die erste Unterrichtsstunde begonnen hatte. Für mich gab es nirgends einen Platz. Als hätte ich bei der «Reise nach Jerusalem» verloren. Zu allem Überfluss war auch noch mein bester Freund seiner Kochlehre wegen in eine Bettenburg in den Bergen gezogen. Ich fühlte mich unsichtbar und stumpf. Wenn ich auf meinem Stuhl zwischen den anderen sass, kam ich mir vor wie ein roher Fleischklumpen. In den Pausen versteckte ich mich auf der Toilette und wehrte ab, als mich unser Klassenlehrer fragte, ob es mir nicht gut gehe.
Doch zum Glück gab es das Internet, und zum Glück gab es Judith. Wir hatten uns noch kein einziges Mal getroffen, da sie in Lübeck lebte. Aber wir chatteten seit Jahren fast jeden Tag und wussten alles übereinander. Kennengelernt hatten wir uns in einem Forum mit schon damals veraltetem Webdesign, das zu Beginn des neuen Jahrtausends für Fans des deutschen Fantasyautors Walter Moers gegründet worden war. Wenn ich nach Hause kam, schaltete ich als erstes den Computer ein und schaute nach, ob mir Judith auf dem Messenger ICQ geschrieben hatte.
Zwar waren es bloss einige Zeichen, trotzdem tat mein Herz jedes Mal einen Sprung, wenn ich eine Nachricht von ihr sah. Es dauerte Monate, bis sie mir ein Foto von sich schickte, und als sie mir einmal eine mit einem Mikrofon aufgezeichnete Proto-Sprachnachricht schickte, bewahrte ich diese auf wie einen Schatz.
Oftmals waren wir beide zeitgleich online, weil es damals, tief in den Nullerjahren, nicht viel anderes gab, was man tun konnte, und ich schrieb mit ihr, während ich dazu Musik von Lacuna Coil, Within Temptation oder Nightwish hörte, die ich über Lime Wire heruntergeladen hatte. Wir tauschten uns über alles aus: unsere Ängste und Sehnsüchte, unsere Einsamkeit, die Dummheit der Erwachsenen und Konflikte mit Eltern und Lehrpersonen. Leider habe ich unsere Chatverläufe nie gespeichert.
Heute würde ich vieles dafür geben, sie nochmals lesen zu können. Immerhin habe ich die Briefe noch, die ich manchmal von Judith erhielt. Wenn nach der Schule ein Kuvert mit ihrer gradlinigen Schrift auf meinem Schreibtisch lag, tat mir meine Isolation noch weniger weh. Judith war die wichtigste Person aus diesem Forum, aber sie war nicht die Einzige, mit der ich regelmässig schrieb.
Da gab es auch noch Lena aus einem Münchner Vorort, die den Fantasyroman lektorierte, den ich damals schrieb, und die mir von ihren Erlebnissen in der Kink-Szene erzählte, in der sie sich bewegte, oder Nathalie aus Dortmund, mit der ich unbeholfen flirtete, ohne je zu erfahren, wie sie aussah. Heute glaube ich: Diese Online-Community hat mich gerettet. Sie zeigte mir, dass es weit mehr gab als das Umfeld, in das ich zufällig hineingeboren worden war, und dass die Welt voller Leute war, die ähnlich dachten und fühlten wie ich selbst.
Auch wenn man sie erst finden musste. Wie wichtig das Forum für mich war, merkte ich jeweils in den Ferien in Frankreich. Dort bettelte ich jedes Mal meine Eltern darum an, in ein Internetcafé gehen zu dürfen, weil wir in der Wohnung keinen Internetanschluss hatten und ich meine Online-Freundinnen und -Freunde vermisste. Smartphones gab es damals noch keine. Es war die Zeit der Foren und Chat-Messenger, die nur für einige Jahrgänge mit ihrer Jugend zusammenfiel und die so wohl nie wiederkehren wird.
Aus Gesprächen mit Menschen aus meinem Umfeld weiss ich: Ich bin nicht der Einzige, dem eine Internetfreundschaft geholfen hat, es durch die Pubertät zu schaffen. Eine Bekannte verbrachte ihre Freizeit in einem Harry-Potter-Forum, eine andere hat ihre beste Freundin über ein Schreibforum kennengelernt, ein dritter über ein OnlineVideospiel einen Freund in Kalifornien gefunden, den er schon mehrfach besuchte. Trotzdem sind mir kaum literarische Texte über dieses Thema bekannt.
Manche aktuellen Romane lesen sich immer noch, als ob es das Internet oder Smartphone nicht gäbe. Dabei nimmt beides im Leben der meisten Menschen einen hohen Stellenwert ein – und das nicht erst seit der Pandemie. Das Internet und die Menschen, mit denen es uns verbindet, haben es verdient, dass von ihnen erzählt wird. Das wilde Internet der Nullerjahre mag längst passé sein. In der Literatur ist es noch zu entdecken.
Zur Person
Adam Schwarz, geboren 1990, hat in Basel und Leipzig Philosophie und Germanistik studiert und war Redaktor der Literaturzeitschrift «Das Narr». 2017 erschien sein grotesker Debütroman «Das Fleisch der Welt» über den Eremiten Niklaus von Flüe. 2023 veröffentlichte er den Roman «Glitsch» über ein Paar auf einem Kreuzfahrtschiff in Zeiten der Klimakrise, der für den Schweizer Buchpreis nominiert war. Adam Schwarz lebt in Basel und arbeitet als Kulturjournalist.