Er ist ein 19-jähriger Junge mit grosser Klappe und Strohhut, heisst Monkey D. Ruffy (je nach Länderregion auch Luffy) und ist die Hauptfigur des mit Abstand meistverkauften Mangas der Welt: Über 500 Millionen Exemplare von «One Piece» wurden seit 1997 verkauft.
Seit Ende August ist dieser Möchtegern-Piratenkönig, der nicht schwimmen kann, aber über einen fast beliebig dehnbaren Gummikörper verfügt, erstmals auch in einer superteuren Live-Action-Serie auf Netflix zu sehen. Damit springt der Streamingdienst auf einen Boom auf, der in einem europaweit rückläufigen Buchmarkt für Goldgräberstimmung sorgt.
13 Prozent Umsatzzuwachs konnten Mangas 2022 allein in der Schweiz verbuchen, in den Niederlanden sogar über 20 Prozent. «‹One Piece› ist ein Phänomen», bestätigt Buchhändler Rafael Marty vom Zürcher Mangashop Jeeg. «Bezüglich Hipness kommt es immer wieder zu grösseren Wellen, aber im Moment ist die Nachfrage enorm.» Er selber lese die Serie von Eiichiro Oda schon seit der Primarschule. «Die Zeichnungen wurden immer besser, dabei war ‹One Piece› ursprünglich eher als Blödelmanga angelegt.»
Mangas bieten wilde und düstere Geschichten
Die aktuelle Faszination für das Genre hat laut Marty aber noch andere Gründe. «Zum einen musste man die letzten Jahre wegen Corona zu Hause bleiben, da haben sich viele nach einem neuen Hobby umgesehen. Zum andern findet man bei Mangas Geschichten, die nicht unbedingt Mainstream sind.» Hier gehe es wilder und düsterer zu und her.
«Japanische Zeichnerinnen und Zeichner haben entweder weniger Hemmungen, als es in anderen Sparten üblich ist. Oder aber der Trend, dass man nur noch erzählen darf, was niemanden irritiert und stört, ist dort noch nicht angekommen.» Aktuelles Beispiel: Bei Netflix kommt «One Piece» aufgrund des massiven Erfolgsdrucks als weitgehend aufs Keimfreie herunterdomestizierter Schabernack daher. In Odas Originalmanga dürfen die jugendlichen Piraten punkto Strich und Tonfall dagegen öfter mal ins Extrem gehen oder auch komplett ausrasten.
Um die Erfolgsgeschichte von Mangas zu unterstreichen und den Schwung auszunützen, wurde im August 2022 in Deutschland und Österreich erstmals ein Manga Day veranstaltet. Mit an Bord waren acht deutschsprachige Verlage, die in über 700 Buchhandlungen fast 400'000 Taschenbücher an Fans sowie Einsteigerinnen und Einsteiger verschenken liessen. Der Zuspruch war überwältigend. Entsprechend wurde für den jetzigen Zweitanlass die Auflage auf 800'000 Exemplare verdoppelt.
Neu dabei sind erstmals deutschsprachige Autorinnen und Autoren: Sozan Coskun mit «Kiela und das letzte Geleit» sowie Aljoscha Jelinek und Blackii mit «Children of Grimm». Für Schweizer Buchhandlungen, Comicläden und Mangashops wie «Jeeg» ist der Manga Day ebenfalls eine Premiere. Laut Rafael Marty macht man sich derzeit vor allem Gedanken darüber, wie die Gratis-Kostproben abgegeben werden sollen, damit möglichst viele Kundinnen und Kunden von den insgesamt 27 Appetizer-Bänden profitieren. «Wir dachten an eine Obergrenze von drei Heften pro Person, damit die Regale nicht schon am Mittag komplett abgeräumt sind.»
Das Genre spricht vor allem Jüngere an
Regulieren ist das eine, das passende Genre fürs entsprechende Publikum zu finden das andere. Marty würde zum Beispiel interessieren, wie gefragt der Mystery-Bestseller «Detektiv Conan» (weltweit 270 Millionen verkaufte Exemplare seit 1994) im Vergleich zu unbekannteren Mangas immer noch ist. Apropos Zielgruppe:
Gut die Hälfte der «Jeeg»-Kundschaft ist zwischen 16- und 30-jährig, also in einem Alter, in dem man sich schon etwas leisten kann. «Es kommen aber auch Kids wegen der Pokémon-Karten, und wir haben eine sehr treue ältere Garde, die gerne liest.» Im Gegensatz zu US-amerikanischen Comics, die tendenziell eine ältere Fanbase mit Superhelden-Affinität ansprechen, und europäischen Comics, die ein kleineres kunstaffines Publikum erreichen, scheinen Mangas eher auf eine jüngere Leserschaft zugeschnitten zu sein.
Doch wie lässt sich ein guter von einem schlechten Manga unterscheiden?« Es gibt Bände, die nicht sonderlich raffiniert gezeichnet sind, aber starke Geschichten erzählen – und umgekehrt», sagt Marty. «Ich persönlich schaue oft darauf, dass Zeichner und Autor nicht identisch sind. Aber manchmal lasse ich mich dann doch wieder von einem schönen Cover verführen. Eine Garantie gibt es nie.»
Manga Day
Sa, 16.9. | www.mangaday.de
One Piece
Als Manga bei Carlsen Verlag
Als Serie bei Netflix
Wiederentdecktes Meisterwerk
Parallel zum Manga Day ist bei Reprodukt eine Trouvaille erschienen: «Shunas Reise» ist einer von wenigen Mangas, die der legendäre japanische Anime-Regisseur Hayao Miyazaki («Spirited away») in den 1980er-Jahren zeichnete, und der nun mit 40 Jahren Verspätung erstmals auf Deutsch übersetzt wurde.
Die auf einem tibetischen Märchen beruhende Geschichte erzählt von einem jungen Prinzen, der auszieht, um für sein darbendes Volk sagenumwobene goldene Kornsamen zu stehlen. Unterwegs verfällt er jedoch dem Wahn und kann nur durch eine Königstochter gerettet werden, die der Prinz zuvor aus der Versklavung gerettet hatte.
Eine reizvolle Verkehrung der Rollen. Die eher untypische, in flächigen Aquarellpanels gezeichnete Fabel besticht nicht nur durch eine extrem verdichtete Erzählstruktur, sondern auch durch grafisch herausragende Kompositionen.
Hayao Miyazaki
Shunas Reise
160 Seiten
(Reprodukt 2023)
Glossar
- Anime: Japanisches Wort für Zeichentrickfilme.
- Cosplay: Tragen eines Kostüms einer MangaFigu
- Manga: Japanisches Wort für Comic. Sie sind generell schwarz-weiss und werden von hinten nach vorne und von rechts nach links gelesen.
- Mangaka: Manga-Schöpferin oder -Schöpfer (in der Regel verantwortlich für Zeichnungen und Text).
- Otaku: Fans, die viel Zeit und Geld für ihre Leidenschaft (Anime, Manga, Videospiele) aufwenden. Vergleichbar mit Nerd oder Geek.
- Josei: An ein erwachsenes, eher weibliches Publikum gerichtet.
- Seinen: Für ein erwachsenes, eher männliches Publikum konzipiert.Shojo Richten sich an ein jugendliches, eher weibliches Publikum.
- Shonen: Für ein jugendliches, eher männliches Publikum gedacht. In Japan die am stärksten vertretene Gattung.