«Singen ist für mich das Natürlichste der Welt», sagt Shirley Grimes. Die Folksängerin und Singer-Songwriterin wuchs in einem kleinen Dorf in Südirland auf. «Nach der Kirche ging man in den Pub und sang gemeinsam.» Das Mädchen mit den roten Locken und der starken Stimme stach heraus. Ein Chorleiter meinte gar, sie forciere ihre Stimme. «Ich war einfach laut», so Grimes, welche die katholisch geprägte Gemeinschaft als engstirnig empfand. «Ich passte nirgendwo so richtig rein.»
Mit 18 Jahren kam sie dank einer Zufallsbegegnung nach Bern. «Es war eine wahnsinnige Zeit», erinnert sie sich. Damals habe es kaum Reglementierungen gegeben. Gemeinsam mit einer Australierin schlug sie sich als Strassenmusikantin durch. «Zwei junge Frauen und eine Gitarre, das fiel auf unter Berns Lauben.»
Mittlerweile ist Grimes eine etablierte Folksängerin. Sie hat grosse und kleine Bühnen gerockt, mehrere Alben herausgegeben, war oft auf Tournee und trat auf dem Gurten auf. Als «Königin der Melancholie» wurde sie in der Presse gehandelt.
Blick für die Themen Isolation und Einsamkeit
Ihr neustes Projekt hat einen sozialen Hintergrund. Mit «Kultur am Bettrand» bringt Grimes Musik, Performances und Lesungen zu jenen Menschen, die durch Krankheit, einen Gefängnisaufenthalt oder sonstige Umstände isoliert sind. «Es gab verschiedene Auslöser für dieses Projekt», so Grimes. Auch eigene Erfahrungen spielten eine Rolle. Ihr heute 18-jähriger Sohn kam mit Startschwierigkeiten zur Welt.
«Wir waren zwei Jahre lang wie auf Nadeln.» Alle hätten zum Kind geschaut, was natürlich richtig gewesen sei, hätten dabei aber die Angehörigen aus den Augen verloren. Diese will Grimes bei «Kultur am Bettrand» nun unbedingt miteinbeziehen. Auch Corona habe ihren Blick für die Themen Isolation und Einsamkeit geschärft. «Eine Freundin von mir war in dieser Zeit an einem Hirntumor erkrankt und fühlte sich schrecklich allein», so die Musikerin. Sie habe schliesslich gefragt, ob Grimes zu ihr singen komme.
«Daraus entstand die Idee, Musik und mehr zu Kranken oder anderswie isolierten Menschen zu bringen.» So besuchte «Kultur am Bettrand» auch schon die Justizvollzugsanstalt Thorberg, um Insassen an Musik teilhaben zu lassen. Grimes, die in Bern und darüber hinaus stark vernetzt ist, konnte innert kurzer Zeit hochkarätige Kulturschaffende für ihr Projekt gewinnen, dessen Pilotphase im März 2023 eingeläutet wurde. So holte sie etwa die Violinistin Gwendolyn Masin mit ins Boot.
Diese hat bereits einen Einsatz hinter sich und empfindet es als Privileg, für Menschen aufzutreten, «die man mit Musik durch Not, Leid und Schmerz begleiten kann». Sie habe die Erfahrung gemacht, dass Musik die Isolierten wenn auch nur für einen Moment an einen Ort der Geborgenheit bringen könne. Mit Grimes teilt Masin die Liebe zum Konzert im kleinen Rahmen. «Wir können eine Art von Verbindung zu den Menschen aufbauen, die oft nicht möglich ist, wenn wir auf grossen Bühnen spielen.»
Alle, die sich bei «Kultur am Bettrand» engagieren, verstünden ihre Performances nicht als klassischen Auftritt, sondern wollten etwas Besonderes geben, so Grimes. Auch sie selbst ist bereits am Bettrand spielen und singen gegangen. «Ich besuchte eine kranke Person, die sich in einer palliativen Phase ihrer Krankheit befand und sehr schwach war.» Sie habe bei ihr das Bedürfnis nach Normalität gespürt.
«Sie wollte einfach schöne Musik hören.» Lustige und traurige Momente habe es im Krankenzimmer gegeben, in dem sich die Angehörigen rund um das Bett versammelt hätten. «Denn das Existenzielle muss nicht immer traurig sein», betont Grimes. Ihre Musik beschäftige sich mit den starken Momenten des Lebens. «Ich schreibe keine Songs über einen Einkauf in der Migros.» Die Privatsphäre der Besuchten zu schützen, sei ihr ein wichtiges Anliegen.
So sei die Krankheit den Musikerinnen und Musikern meist nicht bekannt. Die Feedbacks seien bisher sehr positiv ausgefallen. «Die Finanzierung ist die grösste Herausforderung», sagt die Musikerin. Sie zahle eine faire Gage. Gerade nach der Pandemiezeit, die für viele Kulturschaffende eine Dürreperiode gewesen sei, habe sie nicht um Gratisarbeit bitten wollen. Das gebotene Programm orientiere sich daran, was von kranken oder isolierten Menschen und ihren Angehörigen gewünscht werde.
Demenzkranke zum Tanzen bringen
Nebst Musik gibt es auch «Poesie», «Storytelling» und «Performance». Für Lesungen konnte Shirley Grimes etwa die Autorin Ariane von Graffenried oder den Humoristen Matto Kämpf gewinnen, für Performances die Schauspielerin Ruth Schwegler. Der Geschichtenerzähler Walter Däpp sei bei älteren Menschen besonders beliebt. Grimes selbst besuchte mit der Akkordeonistin Brigitte Hirsig ein Pflegeheim mit Demenzkranken.
«Sie sassen reglos an einem Tisch», erinnert sie sich. Als Hirsig Schweizer Volkslieder intonierte, erwachten die Bewohner. «Einige haben sogar getanzt.» Die Kraft der Musik ist etwas, das Grimes fasziniert und auch wissenschaftlich zunehmend untersucht wird. Nicht nur ältere Menschen profitieren von «Kultur am Bettrand». Die bisher jüngste Empfängerin der Dienstleistung ist gerade einmal fünf Jahre alt. «Wenn du weisst, dass ein Kind todkrank ist, ist das besonders emotional», so Grimes.
Kinder lebten im Moment, könnten besonders viel Freude empfinden und seien sich ihres Schicksals kaum bewusst. «Für uns wurde dieses Treffen zum emotionalen Spagat.»
Kultur am Bettrand
www.kulturambettrand.ch
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